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       # taz.de -- Marxistische Klimakritik: Marx, aber grün
       
       > Mit Rückgriff auf Marx versucht „Klima und Kapitalismus“ eine
       > ökosozialistische Zukunft zu entwerfen.
       
   IMG Bild: Das Buch behandelt die Frage, wie sich denn das Rote mit dem Grünen, Sozialismus und Ökologie verbinden lassen
       
       Was IPCC-Berichte und Greta Thunberg nicht geradebiegen konnten, soll jetzt
       also Marx richten. Weder tausendseitige Berichte noch wissenschaftlich
       elaborierte Untergangsszenarien, Straßenblockaden und Protestikonen hätten
       etwas daran geändert, dass sich die Umwelt- und Klimakrise Tag für Tag
       radikalisiert. So lautet der Ausgangsbefund von Katja Wagner, Maria
       Neuhauss und Maximilian Hauer in ihrem Buch „Klima und Kapitalismus“. Sie
       fordern: Zurück zu Marx! Und landen abschließend bei der Frage, wie sich
       denn das Rote mit dem Grünen, Sozialismus und Ökologie verbinden lassen.
       
       Aber der Reihe nach. Nach einer kurzen Einführung in die
       naturwissenschaftlichen Basics (Treibhauseffekt, Kohlenstoffkreislauf,
       planetarische Grenzen, [1][Anthropozän]) geht es ans Eingemachte: die
       Wechselwirkungen zwischen Natur, Arbeit und Gesellschaft und die
       unweigerliche Kollision einer zum Wachstum verdammten kapitalistischen
       Produktionsweise mit natürlichen Grenzen. Wagner, Hauer und Neuhauss
       fokussieren dabei auf den – lange ignorierten und unlängst vom Philosophen
       [2][Kohei Saito] popularisierten – späten, grünen Marx.
       
       Marx’ „materialistischer Geschichtsauffassung“ zufolge ist der Mensch als
       „Naturwesen“, unabhängig vom politischen und ökonomischen System, auf den
       Austausch mit seiner natürlichen Umgebung angewiesen. Mittels dieses
       „Stoffwechsels“ befriedigt der Mensch seine objektiven (Nahrung, Energie)
       wie subjektiven (Smartphone, taz-Abo) Bedürfnisse. Wie eine Gesellschaft
       diesen Stoffwechsel organisiert, ob zugunsten der Profite einiger weniger
       und ohne Rücksicht auf ökologische Folgen oder zum Wohle aller, das ist
       eine politische Frage.
       
       Es ist eine Machtfrage, ob eine Gesellschaft fossile Brennstoffe (aus
       Autokratien) importiert und damit Verbrennungsmotoren betreibt, die über
       zubetonierte Flächen rollen, wovon die Besitzer:innen weniger
       Automobilkonzerne profitieren; oder ob eine Gesellschaft Strom aus Wind,
       Sonne oder Wasser gewinnt und damit Züge betreibt, die allen für wenig Geld
       zur Verfügung stehen.
       
       Die Marx’sche Stoffwechseltheorie bildet das anschaulich präsentierte
       Grundgerüst, auf dem die Autor:innen aufbauen, um dann in die Gegenwart
       zu zoomen: die Widersprüche und Unzulänglichkeiten „liberaler“ Umwelt- und
       Klimapolitik. Klimapolitiken wie der Green New Deal oder der Handel mit
       CO2-Zertifikaten, kritisieren die Autor:innen, verbleiben innerhalb des
       kapitalistischen Rahmens, innerhalb einer Produktionsweise, die auf Profit
       und nicht auf ein besseres Leben zielt.
       
       Das Lesenswerte an dem gut 200-seitigen Buch ist, dass Wagner und Co beim
       ohnehin viel gescholtenen Green New Deal nicht haltmachen, sondern auch das
       eigene Milieu durchforsten. Sie befassen sich mit den Konjunkturen von
       Fridays for Future, nehmen sich die Postwachstums- und Degrowth-Debatte vor
       und brechen mit der Annahme, Sozialismus sei per se ökologisch.
       
       Nach Marx und der Analyse des klimapolitischen Status quo wenden sich die
       Autor:innen der Zukunft zu, ihrem Verständnis eines ökologischen
       Sozialismus. Jenseits grünkapitalistischer Scheinlösungen gelte es den
       gesellschaftlichen „Stoffwechsel“ grundlegend anders zu organisieren. Nur
       eine Gesellschaft, die Wachstumszwang und Privateigentum an
       Produktionsmitteln überwindet, ist nach Meinung der Autor:innen in der
       Lage, die ökologische Krise zu bearbeiten. Nur eine sozialistische
       Gesellschaft erlaube es, die Produkte der Arbeit so einzusetzen und zu
       verteilen, dass sie für ein gutes Leben für alle reichen.
       
       Holpriger gestaltet sich die Suche der Autor:innen nach dem Subjekt
       einer solchen sozialökologischen Transformation. Etwas voreilig und
       theoretisch unterkomplex wirkt die Annahme, die Arbeiter:innenklasse
       sei prädestiniert für das ökosozialistische Projekt, denn der Mittelklasse
       oder technischen Expert:innen wie Ingenieur:innen fehle die nötige
       „proletarische Grunderfahrung“. Folglich könne es eine
       „klassenübergreifende Politik“ mit der „kapitalistischen Klassenherrschaft
       nie aufnehmen“.
       
       „Klima und Kapitalismus“ liefert nichts revolutionär Neues, doch es leistet
       eine fundierte Einführung in die Thematik. Und es bringt Ordnung in eine
       mitunter verworrene, ausfransende Debatte ökosozialistischer und
       ökomarxistischer Theorie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten nur
       mühsam diverser Halbwahrheiten entledigen konnte. Es bleibt zu hoffen, dass
       auch die ein oder andere Protestikone in spe über dieses Buch stolpert.
       
       1 Sep 2025
       
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