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       # taz.de -- Die Künstlerin Vija Celmins in Basel: Flimmern zwischen Raum und Licht, Ding und Zeichen
       
       > Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit trieb die US-amerikanische
       > Künstlerin Vija Celmins um. Die Fondation Beyeler zeigt ihr abgründiges
       > Werk.
       
   IMG Bild: Vija Celmins, Clouds (Wolken), 1968, Graphit auf Papier, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery
       
       Es zeichnet sich eine Trendwende ab in der Kunst: Wahrnehmung, Raum, Idee,
       Konzept, Farbe und Materialität erfreuen sich wieder einer gewissen
       Aufmerksamkeit. Der kuratorische Drang zur Welterklärung und
       Identitätsbeflaggung ist noch immer spürbar, hat aber mächtig Konkurrenz
       bekommen. So wird die Stimme einer kunsthistorisch soliden, tief in einer
       Sammlung moderner Klassiker verankerten Institution wie die Sammlung
       Beyeler erst einmal wichtiger.
       
       Dort versucht man seit einer Weile, amerikanische Positionen, die es in
       Europa nicht ganz bis zum Markenzeichen geschafft haben, mit aufwändigen
       Retrospektiven zu verankern. Georgia O’Keefe zeigte sich in voller Blüte,
       darauf hatte man nur gewartet. Bei Wayne Thiebaud fehlte das Passwort; das
       Werk kam als angestrengt rüber, obwohl es locker sein will. Der neue
       Versuch gilt der 86-jährigen Vija Celmins, deren Präsenz im Kunstbetrieb
       etwas Gespenstisches an sich hat. Sie ist nie ganz weg, ihre Kunst enorm
       teuer und dennoch ein Fall für Insiderinnen und Connaisseure geblieben.
       
       Früh hat Celmins die Falle erkannt, „abstrakte Expressionistin“ zweiter
       Generation zu werden, gewissermaßen der Abklatsch von Genie. Als Gegengift
       hat sie ihrer Arbeit die Handbewegung ausgetrieben oder anders gesagt, sich
       auferlegt, nach Fotografien zu arbeiten. Dabei werden der Reflex eines
       Blitzes oder eine dramatische Unschärfe bisweilen demonstrativ ausgestellt.
       Mehr als zehn Jahre war sie ausschließlich Zeichnerin, mit Kohle, Grafit
       und Bleistift. Ihren berühmtesten Zeichnungen begegnet man im dritten von
       neun Sälen, 1969–1975: Sie zeigen die Oberfläche des Pazifiks, von einem
       Pier aus gesehen. Die Bewegung des Wassers wird so akribisch dargestellt,
       als würde sie im nächsten Akt in Stein gehauen.
       
       Etwas Elementares hat sie umgetrieben in der Frage von Kunst und
       Wirklichkeit. Fast wäre sie eine Kopistin geworden. Es gibt zwei
       Werkgruppen, die am Ufer des Rio Grande gefundene Steine und auf
       Flohmärkten gekaufte Schiefertafeln (im kleinen Format) betreffen. Es ist
       so gut wie unmöglich, die gefundenen Objekte von ihren Nachahmungen zu
       unterscheiden, jedenfalls nicht, solange sie unter Glas sind.
       
       Ihre [1][Kollegin Elaine Sturtevant] hat eine eigene Gattung aus der
       perfekten Anverwandlung durchgesetzter Kunstwerke gemacht. Celmins ist mit
       ähnlichem Geschick in eine Sackgasse geraten. Auch unter den
       Stilllebenmalern des 17. Jahrhunderts sind nicht die in Erinnerung
       geblieben, die die Sinne am besten täuschen konnten.
       
       ## Blicke aus dem Autofenster
       
       Begonnen hatte ihr kühles Werk mit häuslichen Stillleben („Heater“, 1964)
       und abgasgetönten Blicken vom Fahrersitz auf den Freeway („Porsche“,
       1966/67). 1985 ist Vija Celmins zum Malen zurückgekehrt, eher im kleinen
       Format, was mit der Mühe im Detail zu tun haben mag. Sitzend vor der
       Staffelei tupfte sie sich zusammen: Bilder vom Erdboden in der Wüste, von
       Sternenhimmeln, von fallendem Schnee, von Spinnennetzen.
       
       Ozean, Wüste und vielleicht der Schnee stammen, fotografisch, von ihr
       selbst; die Vorlagen der Nachthimmel holte sie sich von der Sternwarte in
       Los Angeles. Die astrophysischen Aufnahmen bekommen mit dem Hubble-Teleskop
       in den 90er Jahren einen technologischen Schub. Es entsteht ein
       psychedelisches Flimmern zwischen Raum und Licht, Ding und Zeichen.
       
       Beim Betrachten ihrer Gemälde ergibt sich ein bildtheoretisches Problem:
       Wollte man alle Details anschauen, würde man irre; nimmt man das Bild als
       grafisches Ganzes, hat man es verpasst. Celmins’ Nachtbilder sind opake
       All-overs, die – als Gemälde – mehr über den Gegenstand sagen als die ihnen
       zugrunde liegenden Fotografien: Emanationen von Licht, aber eben nicht als
       Empirie, sondern als leibhaftige Erfahrung. Diese sickert tief ein in die
       irrlichternde Oberfläche. Dabei kippt der Status der Gemälde ins
       Objekthafte.
       
       ## Erfolgreich bei Sammlern
       
       Dies mag der Grund sein, dass sie bei den Sammlern so erfolgreich ist.
       Nahezu jede ihrer Zeichnungen, jedes ihrer Gemälde steht Pars pro Toto,
       expliziert allein den Gedanken, auf dem das Werk beruht. Schaltet man
       zurück in die große Übersicht, ergibt sich so etwas wie ein
       Perfektionierungsproblem.
       
       Es ist viel geschrieben worden über die Rolle der Fotografie in der Kunst.
       Gerhard Richter hat aus ihr einen Kult gemacht. Die meisten bildenden
       Künstler(innen) leben in einer Art stillem Streit mit der Fotografie, der
       sie nie verlässt. Hier aber sieht es anders aus. Die Fotografie wird
       überführt in ein schwebendes Etwas. Sie wird nicht benutzt und nicht
       verleugnet, sondern verwandelt. Es gibt nur ein Werk der Gegenwart,
       komplett unterschieden von Celmins in Gegenstand und Wirkung, aber ihr in
       dieser transformativen Beziehung gleich: das von Thomas Demand.
       
       Der zehnte Saal der Ausstellung in diesem glücklichen, atmendem Kunstbau
       bei Basel ist dunkel und gehört der 32-Minuten-Fassung eines Films von Ila
       Bêka und Louise Lemoine. Das Duo hat eine Filmgattung erfunden, die aus
       einem fabulierenden Diskurs über Architektur herrührt. Beauftragt von der
       Fondation Beyeler, hat es die Künstlerin besucht. Zur Vorbereitung der
       Ausstellung (in der wir uns befinden) steht in ihrem Atelier in den
       Hamptons ein Modell dieses Museums in der Schweiz, das einst von Renzo
       Piano gezeichnet wurde. In einer Nahaufnahme sieht man einen Kater von
       hinten, der als Riese lautlos durch die Räume stapft.
       
       In diesem Film, der „Vija“ heißt, spricht Celmins plötzlich – und
       elliptisch – über ihre Erfahrung mit Gewalt. Sechsjährig, angekommen als
       Flüchtling aus Lettland: „Berlin 1944. Ich hatte keine Ahnung, worum es
       überhaupt ging. Nicht so sehr die Körper.“ Sie macht eine konstruktive
       Geste mit beiden Händen. „Aber die Häuser. Ein Haus, eine komplette Ruine,
       darin ein Bett. Darauf haben wir dann geschlafen, alle vier, mit unseren
       Mänteln an.“
       
       ## Durchdrungen von Los Angeles
       
       Zur Ruhe gekommen ist diese Familie in Indianapolis; der mittlere Westen
       eine Kornkammer der Effizienz. Als junge Frau, schon ein bisschen in Kunst
       ausgebildet dort, wanderte Celmins weiter nach Los Angeles. Erst in der
       Mitte des Lebens, längst etabliert, geht sie nach New York, bekommt
       zunächst Barbara Krugers Atelier in der Wooster Street, kauft später ein
       Loft in Crosby Street, dann das Häuschen auf Long Island, bald ergänzt
       durch ein großes Atelier, eine ausgebaute Scheune in einer weiten
       Landschaft. Ihre Lebenspartner waren und sind, offenbar, Hunde und Katzen.
       
       Ihre Kunst aber ist durchdrungen von Los Angeles, dem „Sunshine & Noir“. So
       hieß eine Ausstellung vor dreißig Jahren, an der sie beteiligt war. Demnach
       ist [2][Los Angeles ein Sinnbild von Hell und Dunkel], von der Erfüllung
       aller Wünsche durch einen Pakt mit dem Teufel: „You can check out any time
       you like, but you can never leave.“ Vija Celmins’ Kunst zielt nicht auf
       Eigentlichkeiten, sondern ist Zeugnis einer Reise in etwas
       Unaussprechliches. Vielleicht entstammt sie einem gewaltigen Akt von
       Verdrängung oder Sublimation. Im englischen Sprachgebrauch ist das Sublime
       das Erhabene.
       
       24 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulf Erdmann Ziegler
       
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