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       # taz.de -- 30 Jahre nach Chaos-Tagen in Hannover: Wie ginge Plündern heute?
       
       > Auch durch das Plündern von Supermärkten bildeten Hannovers Punks 1995
       > den Chaostage-Mythos aus. Heute wäre die Supermarkt-Plünderei keine gute
       > Idee.
       
   IMG Bild: Straßenbarrikade in Hannover 1995 – die Chaostage der Punks waren ziemlich handfest
       
       Bremen taz | Chaostage? Gab es viele – und viele sind vergessen. Die aus
       Hannover haben ihren Ruhm sicher auch daher, dass sie so handfest waren:
       Nix da mit nettem Gammeln am Brunnen, sondern beknackte, abgefuckte
       AktionAktionAktion! Punk und Penny und Plündern, das ist dabei eine
       astreine Assoziationskette. Chaostage, die den Namen verdienen, stiften
       Unruhe. Eigentum wechselt den Besitzer, ohne den dafür systemisch
       vorgesehenen Weg zu gehen. Plündern, fragen wir mit leise klopfendem
       Herzen, geht das heute noch?
       
       Moralisch: Nein, sorry. Das ist die erste Antwort. Kapitalismuskritik
       hilft, ganz klar, gegen die Einwände von Ethik und guter Erziehung, aber
       trotzdem: Wenn man zu lange und zu tief drüber nachdenkt, kann man sie nur
       schwer so ganz beseitigen. Das geht nur mit Bausch und Bogen.
       
       ## Moralische Bedenken? Ein Erbe des 20. Jahrhunderts
       
       Der Kollege sagt dazu mutig: Die moralischen Bedenken, die seien eh ein
       Erbe des 20. Jahrhunderts. Gab es früher nicht! Denn siehe: Queen Victoria
       hatte ein Hündchen – die kleine Pekinesin wurde bei der Plünderung des
       Alten Sommerpalastes bei Peking 1860 erbeutet; Victoria benannte sie mit
       dem treffenden Namen Looty (loot = plündern). Keine Scham also, nur ein
       royales Augenzwinkern.
       
       Na gut! Natürlich haben wir doch ein paar moralische Bedenken gegen diese
       Art der kolonialen Plünderung. Aber ist es nicht auch anders denkbar? Als
       praktische Umverteilung von oben nach unten? Als Selbstermächtigung? Weg
       vom Konsumenten, hin zum Menschen? Das ist natürlich Quatsch mit Pathos.
       Und das Schöne am Punk ist ja, dass er so etwas gar nicht unbedingt
       braucht.
       
       Ganz praktisch: Es heißt manchmal, die DJ-Kultur in New Yorks Ghettos
       konnte erst nach dem Großen Stromausfall von 1977 durchstarten, bei dem die
       Stadt, die niemals schläft, eine ganze heiße Nacht lang dunkel war;
       unzählige Shops wurden geplündert. Am nächsten Tag hatten viele junge
       Menschen gute Mixer, Kopfhörer, Lautsprecher, Plattenspieler, mit denen
       eine neue Kulturtechnik an Fahrt aufnahm.
       
       ## Penny-Überfall hat nicht den richtigen Effekt
       
       Ein solcher Effekt lässt sich mit einem Überfall auf Penny selbstredend
       nicht erreichen. Unter den Non-Food-Angeboten dieser Woche finden sich
       Akku-Staubsauger, sogenannte Flachbodenwischer und WC-Sitze mit
       Palmenoptik. Produkte, deren Wirkung sich eher auf individueller Ebene
       abspielt.
       
       Wer jetzt als Plünderziel die Amazonlager in Winsen (Luhe) empfiehlt, weil
       er (oder sie) sich von den Produkten dort mehr Auswirkung auf die nächste
       große kulturelle Entwicklung erhofft, der denkt viel zu utilitaristisch, zu
       zweckgebunden. Das Charmante am Punk, das, was die Bewegung lange nach
       ihren mehrfachen Toden über Generationsgrenzen hinweg interessant macht,
       das ist doch eigentlich ihr Nix-Wollen-Können-Müssen.
       
       Nix wollen, na ja. No future, das sagt sich so. Aber irgendwie kommt die
       Zukunft doch und wird zur Gegenwart, und die Menschen, manche zumindest,
       kommen mit und machen doch noch Pläne, irgendwo arriviert anzukommen.
       Fragen Sie mal die Beteiligten von 1995 (die, die noch leben): Mutmaßlich
       ist man heute an vielen Stellen ganz froh darüber, dass damals nicht jede
       Bewegung im Supermarkt von Kameras verfolgt wurde. Eine Punker-Kartei? Ha!
       Lächerlich, wenn die Polizei Palantir haben kann oder eine andere
       Spitzel-Software.
       
       ## Automatische Gesichtserkennung und ihre Folgen
       
       Was also hilft im Hier und Heute gegen die automatische Gesichtserkennung
       und ihre Folgen im Morgen? Striche und geometrische Muster ins Gesicht
       malen, das sieht auf jeden Fall nach was aus und ist als moderne, punkige
       Ästhetik nur zu empfehlen. Aber ob's noch was bringt? Ein klares Jein. Der
       alte Tipp mit den Dreiecken ist schon seeehr 2010 – die KI lässt sich davon
       schon länger nicht mehr beeindrucken. Aktuell empfohlen wird Glitzer – aber
       „aktuell“, ach, das ist auch schon wieder 2020, und damit graue Vorzeit.
       
       Vor drei Jahren haben Studis in den USA einen wilden Pullover
       herausgebracht, der nicht nur die KI, sondern sogar echte Menschen
       erfolgreich vom Gesicht darüber ablenken konnte. Aber der nächste
       Überwachungsschritt ist immer schon um die Ecke: Wenn [1][Bewegungsmuster
       in den Fokus rücken] und irgendwann Individuen identifzierbar machen, dann
       muss, wer nachhaltig unerkannt bleiben will, ein paar silly walks einüben.
       
       Vertrauen jedenfalls kann man diesen Tipps nicht mehr – die Erfolgsquoten
       liegen je nach System bei zwischen 5 und 70 Prozent. Robustere Techniken
       bieten sich an: Kameralinsen ansprühen. Oder abmontieren. Oder ganz drauf
       scheißen.
       
       10 Aug 2025
       
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