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       # taz.de -- Wenn die Klimakrise ignoriert wird: Deutsche Provinzialität
       
       > Der Klimawandel ist allerorten spürbar. Doch die Bundesregierung scheint
       > das zu ignorieren. Auch Teile der Bevölkerung zeigen sich ignorant.
       
   IMG Bild: Ist die Welt noch zu retten? Der Klimawandel ist auch auf Gotland, Schweden, angekommen
       
       Von der Zukunft aus betrachtet, wird die Gegenwart wie eine tödliche Farce
       oder ein zynisches Endspiel erscheinen. Wir hatten doch endlich verstanden,
       so schien es Ende der 2010er Jahre – und haben trotzdem nichts getan. Oder
       anders: Wir hatten verstanden, und es wurde entschieden, nichts zu tun.
       
       Wie das Bewusstsein über die Realität des Klimawandels, die Fluten, die
       [1][Dürren, die Hitzewellen], die Toten, von der Fähigkeit zu verdrängen
       überlagert wurde, ist ein Beispiel für die menschliche Komödie, könnte man
       sagen: Wenn es nicht eine Frage der Macht wäre, des kapitalistischen
       Systems, der großen wie der kleinen Interessen und des medialen Versagens.
       Ich bin gerade auf der schwedischen Insel Gotland, wo sie einen beim
       Verlassen der Fähre mit der Durchsage begrüßen, dass das Wasser knapp sei.
       Der Brunnen unseres Hauses ist nicht tief genug, um überhaupt noch Wasser
       zu finden, also wird nicht geduscht, nicht gewaschen, außer im Meer.
       Trinkwasser gibt es beim Brunnen im nächsten Dorf.
       
       Das ist nichts im Vergleich zu allem anderen, ich weiß. Und dennoch verhält
       sich dieses Erlebnis zu diesem „alles andere“ auf eine sehr verwirrende
       Art: Veränderung ist immer direkt erfahrbar. Veränderung ist im Fall des
       Klimawandels aber vor allem entfernt vermittelt – entfernt durch Ort und
       auch Zeit, weil die eigentliche Erkenntnis ja ist, wie viel schlimmer es
       noch werden wird, in Zukunft.
       
       Und was passiert in diesem Moment? Die Menschheit – oder ein paar Männer –
       erfindet eine Technologie, die den Verbrauch an Strom und Wasser in
       gigantische Dimensionen treibt. Man kann sich das gar nicht ausdenken, so
       absurd ist diese Situation – die spezielle Art der künstlichen Intelligenz,
       die gerade entwickelt wird (und grundsätzlich anders und viel ökologischer
       sein könnte, wenn die Logik des Geldes nicht greifen würde). Also die
       rechenintensiven großen Sprachmodelle von ChatGPT und so weiter treiben die
       nächste industrielle Revolution voran, mit ähnlicher Rücksichtslosigkeit
       wie die industrielle Revolution davor.
       
       Kann der Mensch nicht lernen, will der Mensch nicht lernen? Oder sind das
       schon die falschen Fragen, weil es nicht um „den Menschen“ geht, sondern um
       einzelne Menschen, die wiederum Massenwirkung erzeugen können? Gibt es „den
       Menschen“ überhaupt?
       
       ## Pessimismus ist keine Option
       
       Und gleichzeitig: Pessimismus ist keine Option. Fatalismus ist keine
       Option. Vielleicht erleben wir nur einen besonders brutalen Übergang vom
       fossilen Regime (mit all den autoritären Ausprägungen, die wir gerade
       sehen) zur postfossilen Gesellschaft, in der Regeneration nicht nur bei der
       Nutzung von Energie gilt – Sonne, Wind, Wasser –, sondern überhaupt ein
       Prinzip ist, wie das gute Leben für alle oder möglichst viele geregelt sein
       könnte. Das sind strategische – und ebenso persönliche – Fragen: Wie geht
       man damit um, wenn so viele um einen herum aufgegeben haben zu denken, zu
       fühlen, für andere zu sorgen?
       
       Bill McKibben, einer der wichtigen US-Autoren zu Klimafragen, hat vor ein
       paar Jahren ein Buch geschrieben, das den Titel trägt: „Falter. Has the
       Human Game Begun to Play Itself Out?“ Das menschliche Endspiel also. Auf
       Deutsch klang der Buchtitel optimistischer: „Die taumelnde Welt. Wofür wir
       im 21. Jahrhundert kämpfen müssen“. Sein neues Buch nun heißt: „Here Comes
       the Sun. A Last Chance for the Climate and a Fresh Chance for
       Civilization“. Deutsch etwa so: „Here Comes the Sun. Eine letzte Chance für
       das Klima und eine neue Chance für die Zivilisation“. Einen Versuch also
       haben wir noch.
       
       Bill McKibben hat sich entschieden, nicht aufzugeben. Er versucht, wie
       gerade auch die [2][immer kluge US-amerikanische Autorin Rebecca Solnit] in
       einem optimistischen Text im Guardian, der politisch orchestrierten Apathie
       etwas Konstruktives entgegenzusetzen. Wie für McKibben ist für Solnit die
       Möglichkeit und Notwendigkeit evident, die Gesellschaft zu elektrifizieren
       – und das mit Sonne, mit Technologie. Das hat ihr ein wenig Kritik von
       denen eingebracht, die einen grundsätzlicheren Systemwechsel einfordern.
       Solnit schreibt: „Eine Energierevolution ist in diesem Jahrhundert im
       Gange, obwohl sie sich langsam genug und technisch genug entfaltet hat,
       dass die meisten Menschen sie nicht bemerken.“ Und schließt daraus: „Sie
       sichtbarer zu machen, würde mehr Menschen für sie als Lösung, als
       Versprechen, als Möglichkeit begeistern, die wir schnell und von ganzem
       Herzen verfolgen können, sollten und müssen.“
       
       Es ist das Drama der Zeit der Ampelkoalition – medial genauso wie vonseiten
       der damaligen Opposition und heutigen Gas-Lobby CDU/CSU und genauso wie von
       Teilen der panisch-bornierten Bevölkerung –, dass diese mögliche und
       plausible Zukunft nicht gewollt wurde. Darin zeigt sich wieder einmal die
       Provinzialität dieses Landes, das sich bewusst abwendet von Entwicklungen,
       die anderswo schon viel weiter gedacht und vorangetrieben werden.
       
       Ich habe immer noch nicht genau verstanden, [3][was an den erneuerbaren
       Energien generell links sein soll] – außer vielleicht der Aspekt, dass die
       Frage von Gier, Verantwortungslosigkeit und latenter oder offener
       Korruption eben doch eher eine Sache der Rechten ist. Ein Tiefpunkt dabei
       war sicher, als der aktuelle Kanzler den dümmsten Satz aller
       Klimarelativierer der vergangenen Jahre sagt: Deutschland sei doch eh zu
       klein und könne nichts gegen den Klimawandel tun. Tant pis, scheiß drauf,
       also weiter wie bisher.
       
       Wir üben gerade kollektive Verantwortungslosigkeit ein, bei der Vernunft
       genauso wie Empathie nur störend sind. Es steckt eine tiefe Irrationalität
       in dem Umstand, dass es möglich wäre, dass es sogar gut wäre, sogar
       wirtschaftlich gut, anders Energie zu produzieren, anders Energie zu
       nutzen. Wir leben in verrückten Zeiten. Es braucht, wie es McKibben und
       Solnit vormachen, für diesen Moment den Widerstand der Hoffnung.
       
       6 Aug 2025
       
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