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       # taz.de -- Mit Kultur gegen die Landflucht: Was bewegen
       
       > Kultur hilft, auch gegen Landflucht und verödendes Dorfleben. Doch sie
       > erfolgreich zu fördern, ist anspruchsvoll – und das liegt nicht bloß am
       > Geld.
       
   IMG Bild: Der Blick zurück soll das Ausdünnen von Gemeinschaft bremsen: Erntefestfeier 1960 im mecklenburgischen Mestlin
       
       Berlin taz | Es ist ein bisschen wie beim Pilze sammeln: Ist das Auge erst
       sensibilisiert, scheinen sie überall aus dem Boden zu sprießen. Tatsächlich
       gibt es inzwischen eine fast unüberschaubare Zahl von Initiativen,
       Programmen, Stiftungen, die Kultur [1][im ländlichen Raum] fördern. Eine
       lange Liste, die eine*n ins Staunen bringen kann. Und ins Grübeln – sind
       denn vielerorts nicht immer noch Bushaltestellen die einzigen Hang-outs
       [2][etwa für Jugendliche]?
       
       Über die desaströsen gesellschaftlichen Folgen geschlossener Dorfkneipen
       und verschwindender öffentlicher Treffpunkte in Kleinstädten wurde seit der
       [3][Corona-Epidemie] so ausführlich geforscht, dass fast jede Maßnahme, die
       Kultur im ländlichen Raum initiiert, sinnvoll erscheint. Nur: Wer ergreift
       in sogenannt„strukturschwachen Regionen“ welche Initiative? Und wer
       entscheidet, was die Menschen vor Ort interessiert? Ein Beispiel:
       
       Der Landkreis Uecker-Randow, Grenzregion Vorpommern, ein landschaftlich
       reizvolles Gebiet mit Seen, Mooren, weiten Feldern, hohem Himmel, einem
       ehemaligen NVA-Übungsplatz. Und etlichen kleinen Dörfern, aus denen seit
       der Wende [4][immer mehr Menschen wegziehen]: Nirgendwo in Deutschland ist
       die anhaltende Landflucht sichtbarer. Hier startete vor fünf Jahren ein
       großes Projekt der Bundeskulturstiftung, das das regionale
       Gemeinschaftsleben wiederbeleben sollte, in und zwischen den Dörfern. Ein
       lokaler Träger kam in den Genuss der Fördermittel und stellte zur Umsetzung
       unter anderen drei Personen an, die ein [5][„Kulturlandbüro“] gründeten.
       
       Josefa Baum gehörte von Anfang an zu dem kleinen Team: „Ich hätte mir als
       Jugendliche sehr gewünscht, dass es für uns auch schon solche Initiativen
       gegeben hätte“, sagt die 31-Jährige. Sie ist selbst in der Region
       aufgewachsen, spricht fließend Polnisch und hat sich im Studium mit
       transregionaler Identität im deutsch-polnischen Grenzraum beschäftigt.
       
       ## Keine importierten Spektakel
       
       Vier Jahre Feldforschung mit Praxisarbeit haben ihren Blick auf die
       Voraussetzungen für und Erfolgskriterien von Kulturarbeit in
       strukturschwachen Regionen ziemlich verschoben: Mit leichtem Grusel schaut
       das Kulturlandbüro heute auf die Anfangsphase zurück, als man mit einer
       Künstlergruppe in einem Zirkuszelt von Dorf zu Dorf tingelte, „wie mit
       einem Ufo, das aus Berlin gelandet war“. Es war ein gut gemeintes
       Unterhaltungsangebot, von dem man sich erhoffte, es würde die
       Dorfbewohner*innen wieder zusammenbringen. Tat es aber nicht.
       
       Das Kulturlandbüro wollte mit solchen importierten Spektakeln nicht
       weitermachen, es sei schließlich nicht als Veranstaltungsagentur
       angetreten, sagt Josefa Baum. Zusammen mit ihren Kollegen David Adler,
       theater-affiner Kulturmanager aus Greifswald, und Maria Elsner,
       Restauratorin, Kunsthistorikerin und ebenfalls in der Region zu Hause,
       entwickelte sie neue „Formate“: Die drei führten lange Gespräche in den
       Gemeinden, mit Einzelpersonen, Zufallsbegegnungen, aber auch
       Bürgermeistern. Das sei anstrengend gewesen, erinnert sich Maria Elsner,
       bewegend und aufschlussreich.
       
       Es sei schwierig, Menschen in solch kleinen Gemeinden dazu zu bewegen,
       selbst wieder aktiv zu werden – als hätten Wendeerfahrungen und
       Abwanderung zu einer generationsübergreifenden Apathie und Müdigkeit
       geführt. Das Vereinsleben war vielerorts komplett eingeschlafen, und
       abgewandert schien auch das Wissen, wie man kulturelles Leben auf dem Land
       organisiert. „Manche Gemeinden dachten zuerst: Da kommt wer mit einem Eimer
       Geld!“, erzählt Elsner. „Was fehlte, waren Gespräche, was man mit diesem
       neuen Geld machen könnte.“
       
       Das Kulturlandbüro begann mit Angeboten für die Gemeinden zu
       experimentieren und setzte auch auf Netzwerkarbeit mit anderen Initiativen
       in der Region. So entstanden unter anderem die [6][„Dorfresidenzen“]: Das
       Kulturlandbüro vermittelte interessierte Kunstschaffende, aus denen das
       Dorf dann eine*n aussuchte und einlud, einige Monate lang dort zu leben.
       Gemeinsam sollen Ideen entwickelt und realisiert werden.
       
       ## Lokale Geschichte als Schwerpunkt
       
       Die meisten Gemeinden wollten sich mit der eigenen lokalen Geschichte
       auseinandersetzen, in Buch- oder Filmform, durch Veranstaltungen mit
       Zeitzeugen oder auch in Form von Audiowalks. In der Zusammenarbeit mit den
       Künstler*innen kam es durchaus zu Reibungen. Aber, so die Erfahrungen
       des Kulturlandbüros, diese Konfliktsituationen stießen oft etwas Anderes,
       Neues an – nachdem die Künstler*innen abgereist waren. So wurde etwa
       eine Heimatstube wiederbelebt, oder an einer Außenfassade erzählte nun ein
       Mosaik die Dorfchronik.
       
       Muss immer erst etwas Scheitern, bevor eine Kulturinitiative gestartet
       werden kann, die von der Gemeinde gewollt und mitgestaltet wird? In
       Rothenklempenow im südlichen Mecklenburg-Vorpommern lief es von Anfang an
       anders. In dem Dorf mit drei Seen und 541 Einwohner*innen, viel rotem
       Backstein und einer stillgelegten Glashütte hat das Kulturlandbüro seinen
       Hauptsitz. Inzwischen organisiert ein neu gegründeter Verein dort
       selbständig gut besuchte [7][Erzählcafés] mit lokalen Zeitzeugen, manchmal
       auch Lesungen und Konzerte.
       
       Viele Veranstaltungen laufen unter dem Dach eines „Lexikons der
       Erinnerungen“, in dem das Dorfleben zu DDR-Zeiten wieder-, auch
       weitererzählt wird. Durch gemeinsames Aktenwälzen in der
       Gemeindehaus-Rumpelkammer, Stöbern in privaten Fotoalben, die Besichtigung
       alter Produktionsstätten und filmisch dokumentierten persönlichen
       Erinnerungen ist da etwas in Gang gekommen – als schreibe das Dorf an einem
       neuen Kapitel seiner Chronik.
       
       Die Beschäftigung mit der eigenen, lokalen Geschichte hat sich als gut
       geeigneter, inspirierender Ausgangspunkt erwiesen. Besonders in kleinen
       Gemeinden der ehemaligen DDR scheinen Menschen über eine neu initiierte,
       [8][kollektive Erinnerungskultur] wieder zueinanderfinden. Die
       Künstler*innen von außerhalb geben oft nur den Anstoß, stiften einen
       Anlass: als Chronist*innen, als interessierte Zuhörer*innen mit einer
       Videokamera. Und mit dem Wissen, wie sich das gesammelte Material dann
       aufbereiten lässt.
       
       Erfolg oder Misserfolg ländlicher Kulturförderung hängt nicht nur ab von
       Themen und Formaten. „Die Kommunen sind als Partner für das viele neue Geld
       für ländliche Kulturförderung überfordert“, weiß David Adler, der selbst in
       der Verwaltung einer ländlichen Gemeinde tätig war. „Von den 48 Gemeinden,
       mit denen wir zusammengearbeitet haben, werden 43 von ehrenamtlichen
       Bürgermeistern geführt.“ Wer kann da die notwendigen Anträge schreiben, um
       an existierende Förderung zu gelangen? Wer aus der Verwaltung macht
       Überstunden, wenn Veranstaltungen auch mal am Wochenende stattfinden? Und
       organisiert für all das den erforderlichen Versicherungsschutz?
       
       ## Zwischen Arbeitslosigkeit und Projekten
       
       Hier setzt das Kulturlandbüro auf seinen Neustart: Nachdem die vierjährige
       Förderung ausgelaufen war, [9][gründete das Trio] Anfang des Jahres eine
       gemeinnützige Unternehmensgesellschaft. Nun hofft es auf eine
       Basisfinanzierung durch den Landkreis, um Wissen und Netzwerke neuen
       Projekten zur Verfügung stellen zu können. Man unterstützt Gemeinden oder
       Einzelpersonen bei der Antragstellung, vermittelt bei Bedarf geeignete
       Kulturschaffende oder übernimmt auch mal die Veranstaltungsplanung.
       
       Derzeit sind Elsner, Baum und Adler ehrenamtlich unterwegs, hangeln sich
       selbst mit Gelegenheitsjobs oder Arbeitslosengeld von einem Projektantrag
       zum nächsten. „Wir verstehen uns nicht selbst als Kulturschaffende“, sagt
       Adler, „eher wie Gärtner, die ein Beet bestellen – was darauf wächst,
       sollen die Leute selber entscheiden.“ Förderung könne aber keine fehlenden
       Strukturen ersetzen: „Es gibt zu viele Projekte und zu wenig Träger.“
       
       Ganz schön kompliziert, Kultur auf dem Lande ins Laufen zu bringen. Neue
       Geldquellen müssen wie mit ortssensiblen Bewässerungssystemen verteilt
       werden, wenn sie nicht versickern sollen. Hoffen lässt, dass Fördermittel
       inzwischen vermehrt nach neuen Kriterien vergeben werden, also anders als
       in urbanen Zentren – anders aber auch, als es noch vor wenigen Jahren
       üblich war.
       
       Bei [10][„Aller.Land“] – einem „Bundesprogramm Ländliche Entwicklung und
       Regionale Wirtschaftsförderung“ – beispielsweise gingen der
       Juryentscheidung regelrechte Expeditionen in ländliche Regionen voraus.
       Drei beteiligte Bundesministerien setzen zusammen mit der
       [11][Bundeszentrale für Politische Bildung] auf eine enge Verzahnung mit
       Ländern und Kommunen, bieten etwa auch Qualifizierungsangebote für die
       Projektverantwortlichen vor Ort an. Bis 2030 stehen dafür 70 Millionen
       Fördermittel zur Verfügung. Kein Cent zu viel.
       
       10 Aug 2025
       
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