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       # taz.de -- Hungersnot in Gaza: So schlimm war es noch nie
       
       > Knapp eine halbe Million Menschen sind in Gaza von Hunger betroffen.
       > Fadi, der Säugling von Asma Hassouna, ist fünf Monate alt. Jeden Tag geht
       > es ihm schlechter.
       
   IMG Bild: Viele Säuglinge im Gazastreifen sind mittlerweile unterernährt, am 24.7.2025
       
       Gaza-Stadt/Berlin taz | Als Fadi Hassouna am 20. Februar 2025 in Deir
       al-Balah in Zentralgaza zur Welt kommt, lässt Israel noch die Lieferung von
       Hilfsgütern in den Gazastreifen zu. Milchpulver habe sie damals von einer
       Hilfsorganisation bekommen, erzählt seine Mutter Asma Hassouna. Zehn Tage
       später verhängt Israel einen Stopp für die Lieferung von Hilfs- sowie
       kommerziellen Gütern.
       
       Seitdem, sagt sie, finde sie kaum mehr das dringend nötige Milchpulver für
       Fadi. „Jeden Tag geht es meinem Baby schlechter“, sagt die 34-Jährige.
       Nicht nur an Babynahrung mangelt es: Essen für die anderen Mitglieder der
       fünfköpfigen Familie zu finden, werde immer schwieriger. Deswegen kann
       Hassouna ihren kleinen Sohn auch nicht stillen. [1][„Es ist sehr hart“],
       sagt sie.
       
       Wie Asma Hassouna und ihrer Familie geht es fast allen Menschen im
       Gazastreifen: Laut der IPC-Skala, die Ernährungssicherheit misst, leidet
       die gesamte Bevölkerung Gazas unter [2][akuter Ernährungsunsicherheit].
       Rund 470.000 Bewohner*innen fallen in die höchstmögliche
       Klassifizierung und gelten damit als von einer Hungersnot betroffen. Nach
       palästinensischen Angaben sind Dutzende jüngst an deren Folgen verstorben.
       Säuglinge und Kinder sind besonders gefährdet: Sie brauchen spezielle
       Nahrung wie Babymilchpulver. Zudem kann sie Mangelernährung langfristig in
       ihrer Entwicklung schädigen.
       
       ## Es ist anzunehmen, dass die Fälle steigen
       
       Hilfsorganisationen schauen mit besonderer Sorge auf die Kleinsten. Das
       beschreibt eine Mitarbeiterin von Juzoor – einer Organisation, die im
       Gazastreifen mehrere Zentren für Ernährung betreibt und auch mit dem
       katholischen Hilfswerk Caritas zusammenarbeitet. In den Zentren überprüft
       Juzoor seit Januar 2024 den Ernährungszustand von Kindern unter fünf
       Jahren. Die Organisation misst den Umfang des Oberarms – ein
       standardisiertes Vorgehen zur Dokumentation von Unterernährung bei Kindern.
       Bluttests wären akkurater, denn auch wer wenig Gewicht verloren hat, kann
       mangelernährt sein. Doch das sei derzeit nicht möglich, sagt eine
       Mitarbeiterin.
       
       Von insgesamt 129.000 Kleinkindern habe Juzoor Daten aufgenommen,
       mindestens 1 Prozent von ihnen sei schwer, 6 Prozent moderat unterernährt.
       Es ist anzunehmen, dass die Fälle derzeit ansteigen. Bislang habe man die
       betroffenen Familien mit hochkalorischer Fertignahrung unterstützt.
       Mittlerweile, sagt eine Mitarbeiterin der Organisation, seien die Vorräte
       erschöpft. „Wir haben nichts, was wir ihnen geben könnten.“
       
       Zwar beendete Israel seine komplette Blockade Mitte Mai und ließ seitdem
       wieder einige Lastwägen mit humanitärer Hilfe passieren. Doch Daten, die
       die zuständige israelische Behörde Cogat selbst veröffentlicht, zeigen: Es
       ist viel zu wenig. Laut Cogat wurden im Februar noch über 295.000 Tonnen
       Güter nach Gaza geliefert, davon 216.000 Tonnen Nahrungsmittel.
       
       Im März und April fiel das auf null ab. Im Mai durften schließlich wieder
       etwa 20.000 Tonnen passieren, im Juni etwa 38.000, im Juli bislang unter
       24.000 Tonnen. Etwa zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen. Laut
       Berechnung des Welternährungsprogramms [3][wären mindestens 60.000 Tonnen
       im Monat nötig], um der Gesamtbevölkerung gerecht zu werden.
       
       ## Die mangelernährten Mütter können oft nicht stillen
       
       Schon vor Beginn der [4][Blockade] ab März gab es immer wieder Berichte
       über Hunger im Gazastreifen. Auch damals wurde kritisiert, dass Israel zu
       wenig Güter nach Gaza hineinlasse. Alternative Importrouten gibt es nicht,
       weil Israel alle Grenzübergänge kontrolliert. Die von der Cogat
       veröffentlichten und bis Februar 2024 zurückreichenden Daten bestätigen die
       Wahrnehmung der Menschen in Gaza: [5][So schlimm wie jetzt war es noch
       nie.]
       
       Viele Güter, berichten mehrere Kontakte aus dem Gazastreifen der taz, sind
       gar nicht mehr verfügbar: etwa Milchprodukte, Fleisch und Eier. Andere, wie
       Mehl, Reis oder Hülsenfrüchte, sind sehr teuer. Ein Kilo Mehl, so ein
       Kontakt aus Gaza-Stadt, habe zuletzt umgerechnet etwa 24 Euro gekostet. Ein
       Kilo lokal produzierter Feigen kostet bis zu 40 Euro, Kartoffeln um die 20
       Euro.
       
       Genauso verhält es sich mit dem Milchpulver: Bis zu 85 Euro könne eine Dose
       kosten, wenn man sie denn finde. „Jedes Mal, wenn ich ein Produkt sehe, das
       für Kinder unter sechs Monaten geeignet ist, versuche ich es zu kaufen“,
       sagt Asma Hassouna. Mit ihren drei Kindern und ihrem Mann lebe sie in einem
       Zelt in Zentralgaza, zwischen Abwasser und Müll, erzählt sie.
       
       Ihr Ehemann habe seinen Job verloren, das Geld für das Milchpulver versuche
       sie irgendwie zusammenzubekommen. Sie kauft es bei Straßenhändlern, in
       Apotheken und Märkten. Oft gehe sie leer aus: „Ich füttere ihm dann das,
       was wir selbst zu essen finden: Es gibt einfach keine andere Option.“
       
       „Eigentlich raten wir den Müttern zu stillen“, sagt der Kinderarzt Alaa Abu
       Qamar. „Doch viele sind mangelernährt“ – und der Körper nicht fähig, Milch
       in ausreichender Menge zu produzieren. Bis zum sechsten Lebensmonat, sagt
       Alan Abu Qamar, empfehle er normalerweise, Säuglinge mit Mutter- oder
       Babymilch zu ernähren. Babymilchpulver sei die einzige Alternative, die die
       Kleinsten ausreichend mit Vitaminen und Mineralstoffen versorge. Doch die
       Umstände ließen den Müttern oft keine Wahl. „Manchmal müssen wir den
       Kindern sogar Glukoselösung geben, um schwere Unterzuckerung zu vermeiden“,
       sagt er.
       
       ## Die Lastwagen stünden bereit
       
       Bis März hätten Hilfsorganisationen regelmäßig Babymilchpulver an
       pädiatrische Kliniken gespendet, berichtet der Kinderarzt. Das sei vorbei.
       Vor einigen Tagen habe er unter großen Schwierigkeiten vier Packungen
       auftreiben können. „Es ist, als habe man einen Schatz gefunden“, sagt Abu
       Qamar. Manche Eltern fütterten ihren Kindern in Ermangelung anderer
       Optionen Nahrungsergänzungsmittel, die einige Hilfsorganisationen noch
       immer im Gazastreifen verteilten, erzählt er, auch wenn diese für Babys
       unter sechs Monaten ungeeignet seien.
       
       Für ältere Kinder und Erwachsene schon eher. Juzoor etwa verteilt spezielle
       Kekse, die sehr viele Kalorien haben und als Notfallnahrung in
       Krisengebieten genutzt werden. Doch auch diese gingen mittlerweile zur
       Neige, sagt eine Mitarbeiterin.
       
       Partnerorganisationen von Juzoor hätten Lastwagen hinter der Grenze
       bereitstehen, berichtet sie. Sie warteten nur auf die Genehmigung, um nach
       Gaza einfahren zu können. Nicht nur Milchpulver hätten sie geladen, sondern
       auch dringend benötigte Nahrungsmittel für ältere Kinder, Erwachsene und
       Senioren. „Wir hoffen, dass die Ladung bis dahin nicht abläuft und
       verdirbt“, sagt sie.
       
       Asma Hassouna vergleicht Fadi mit seinen beiden Geschwistern, als diese im
       selben Alter waren: Die Folgen der Mangelernährung seien offensichtlich, er
       sei abgemagert. „Ich hoffe, der Krieg endet bald“, sagt sie. „Und dass es
       dann endlich wieder Essen gibt – für Kinder wie Erwachsene.“
       
       25 Jul 2025
       
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