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       # taz.de -- Atheismus an der Uni Göttingen: Gottlose Forschung
       
       > Die Geschichte des atheistischen Denkens ist lang, aber wenig erforscht.
       > Das will unter anderem das historische Seminar der Uni Göttingen ändern.
       
   IMG Bild: Offensiver Atheismus: Ein gottlos Glücklicher auf dem Evangelischen Kirchentag 2019
       
       Göttingen taz | Für Glaubensfragen ist an der Göttinger Universität in der
       Regel die Theologische Fakultät erster Ansprechpartner. Ihre 15 Professuren
       sollen die doppelte Besetzung aller klassischen Disziplinen der Theologie
       und darüber hinaus Forschung und Lehre in Spezialdisziplinen wie Judaistik,
       Kirchenrecht und Theologischer Ethik gewährleisten. Doch ein zentrales
       Glaubensthema fehlte bislang – der Atheismus.
       
       Wer hierzu nach wissenschaftlicher Expertise suchte, wurde an der Georgia
       Augusta nicht fündig. Das soll sich nun ändern. Ein neues internationales
       Forschungsnetzwerk, das an der Uni angesiedelt ist, beschäftigt sich mit
       der Entwicklung des Atheismus und den Formen des Unglaubens in der
       europäischen Neuzeit.
       
       Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus neun Ländern
       untersuchen dabei, wie der Atheismus zwischen den 1860er- und 1940er-Jahren
       nicht nur als intellektuelle Haltung, sondern auch als gelebte Erfahrung
       und organisierte soziale Bewegung in Europa entstanden ist.
       
       [1][Atheismus (altgriechisch: „ohne Gott“) bezeichnet die Überzeugung, dass
       es keine Götter gibt]. Zum Atheismus im weiteren Sinne wird mitunter aber
       auch der Agnostizismus oder agnostische Atheismus gezählt, nach dem eine
       Existenz von Göttern nicht klärbar – und daher irrelevant ist. Weil
       wiederum der Agnostizismus unterschiedliche Ansichten vereint, ist seine
       Zuordnung zum Atheismus allerdings umstritten.
       
       ## Mehr als ein Fünftel ohne Glauben
       
       Wie viele Atheistinnen und Atheisten es auf der Welt gibt, ist unklar. In
       seiner „Bilanz des Unglaubens“ schreibt der französische
       Religionshistoriker Georges Minois, es kursierten Unmengen an Zahlen, die
       allesamt falsch seien.
       
       Allenfalls sei aus ihnen zu ersehen, dass mehr als ein Fünftel der
       Menschheit [2][nicht an einen Gott glaube]. Allerdings präsentierte Minois
       selbst Schätzungen für das Jahr 1993 – weltweit 1,2 Milliarden Agnostiker
       und Atheisten – sowie für das Jahr 2000 – etwa 1,1 Milliarden Agnostiker
       und 262 Millionen Atheisten.
       
       Um solche Zahlen geht es dem neuen Netzwerk nicht. Die 16 festen Mitglieder
       wollen vor allem aufzeigen, „wie atheistische Ideen durch Schriften,
       Organisationen und alternative Riten wie Jugendweihe oder säkulare
       Beerdigungen aktiv gelebt und verbreitet wurden“, sagte Mit-Initiatorin und
       -Leiterin der Forschungsgruppe, Carolin Kosuch vom Seminar für Mittlere und
       Neuere Geschichte der taz.
       
       „Darüber hinaus untersuchen wir, wie Atheisten oft als Bedrohung der Moral
       oder der öffentlichen Ordnung wahrgenommen wurden und wie sich diese
       Wahrnehmungen im Zuge breiterer gesellschaftlicher Veränderungen
       wandelten.“
       
       ## Atheismus hat eine lange Geschichte
       
       [3][Die Wurzeln des Atheismus] reichen bis in die Antike zurück. Die Epoche
       des Mittelalters war nicht nur eine Zeit großer Religiosität, sondern auch
       stark von Glaubensformen geprägt, die mit den kirchlichen Lehren
       konkurrierten. Renaissance, Humanismus und Aufklärung stärkten dann den
       Skeptizismus gegenüber religiösen Dogmen.
       
       Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor allem Anhänger des niederländischen
       Philosophen Baruch de Spinoza als Atheisten diffamiert: Ihm zufolge ist
       Gott eine mit der Natur identische Substanz.
       
       Als Kampfbegriff diente – und dient in den USA teilweise noch immer – die
       Bezeichnung „Atheist“ zur Diffamierung derjenigen, die zwar an Gott
       glauben, aber in Einzelaspekten von der herrschenden Gotteslehre abweichen.
       
       „Uns war es sehr wichtig, die Geschichte möglichst vieler europäischer
       Atheismen einzubeziehen“, berichtet Kosuch. Neben
       Wissenschaftler:innen aus West-, Süd- und Mitteleuropa seien auch
       Ungarn, Tschechien und skandinavische Länder im Netzwerk vertreten.
       
       „Hinzu kommen zu jedem Treffen eingeladene Experten und Expertinnen, sei es
       aus dem Bereich Digital Humanities, sei es aus der Atheismus- und
       Religionsforschung, die uns mit ihrem Wissen und ihrer Expertise
       unterstützen.“ Das Netzwerk wird drei Jahre lang durch die Deutsche
       Forschungsgemeinschaft mit insgesamt rund 73.000 Euro gefördert. Die
       Teilnehmenden konferieren – teils in Arbeitsgruppen – online, es sind aber
       auch Präsenztreffen vorgesehen.
       
       Das erste findet im September an der Universität Göttingen statt. Seine
       Forschungsergebnisse will das Netzwerk 2027 in einer umfangreichen
       Publikation bündeln. „Wir planen eine englischsprachige Quellenedition, die
       online verfügbar und mit einem umfassenden wissenschaftlichen Kommentar
       versehen sein wird“, kündigt Kosuch an.
       
       „Unsere Idee war, dass diese Edition Grundlage für weitere Projekte dieser
       Art sein könnte.“ So könne der Atheismus in der Geschichte Europas
       dauerhaft die Aufmerksamkeit bekommen, die ihm zusteht.
       
       18 Aug 2025
       
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