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       # taz.de -- Opernprogramm der Salzburger Festspiele: Qualvoll durchleben sie die Handlung wieder und wieder
       
       > Die Opern der Salzburger Festspiele erzählen von Macht, Krieg und Tod.
       > Der große Wurf gelingt mit Evgeny Titovs Inszenierung von Eötvös’ „Drei
       > Schwestern“.
       
   IMG Bild: Titov verlegt Peter Eötvös’ „Drei Schwestern“ in der Felsenreitschule von der russischen Provinz in ein apokalyptisches Nirgendwo
       
       Salzburg brummt. Nach wochenlangem Schnürlregen hat sich endlich
       Sommerwetter eingestellt, das die barocke Stadt strahlen lässt. Drängelten
       noch während der Schlechtwetter-Periode verhinderte Outdoor-Touristen durch
       die Getreidegasse, gehört die Stadt nun wieder dem Klassikbetrieb, der sich
       hier nahezu vollzählig versammelt. Nirgendwo sonst trifft man so viele
       Kollegen und Strippenzieher. Im Festspielbezirk, den engen Gassen, den
       Cafés und Kneipen wird diskutiert, gestritten und getratscht.
       
       Salzburg ist der Kontakthof der Branche, man tankt Schönheit in der
       genussfrohen Stadt, auch wenn das von [1][Intendant Markus Hinterhäuser]
       verantwortete Programm fast durchweg ernste Töne anschlägt und dem Publikum
       viel Sperriges zumutet. Das Editorial der Spielzeit raunt von
       „Extrempunkten des menschlichen Daseins“, es geht um Einsamkeit, Krieg und
       Tod.
       
       Auch das Opernprogramm widmet sich mit Ausnahme des sinnlich-quirligen
       Vivaldi-Pasticcios – eine Übernahme der Pfingst-Festspiele – konsequent
       düsteren Themen. Nach Dmitri Tcherniakovs Bunker-Lagerkoller-Szenerie für
       Händels „Giulio Cesare“ und [2][Peter Sellars]’
       Mahler-Schönberg-Doppelabend, rundet das Programm sich mit Ulrich Rasches
       Inszenierung von Gaetano Donizettis „Maria Stuarda“ und Evgeny Titovs
       Inszenierung von Peter Eötvös’ Tschechow-Adaption „Drei Schwestern“.
       
       [3][Ulrich Rasche ist der Mann mit den Drehscheiben]. Seine
       Schauspiel-Inszenierungen sind strenge Textrituale, bei denen das Personal
       gegen kreisende Drehbühnen anarbeiten muss. Nun geht er in Salzburg erst
       zum dritten Mal in seiner Karriere das Musiktheater an.
       
       ## Jede Scheibe ist eine isolierte Welt
       
       Rasche wartet auf der Cinemascope-Bühne des Großen Festspielhauses diesmal
       gleich mit drei Scheiben auf, zwei in alle Richtungen bewegliche und
       fahrbare Drehbühnen sowie eine bedrohliche Scheibe über der Szene, die mal
       als Licht- und Stimmungsquelle, mal als Projektionsfläche für Videos
       fungiert. Die beiden Königinnen Elisabetta und Maria Stuarda, die sich im
       wirklichen Leben nie begegnet sind, sich aber in der Schiller’schen
       Libretto-Vorlage einen berühmten Showdown-Dialog liefern, agieren jede auf
       ihrer sich drehenden Scheibe. Zwei Scheiben, zwei isolierte Welten. Beide
       Königinnen sind umgeben von einem schattenhaften Bewegungschor, der als
       dunkle Macht stets präsent ist und durch pure Gegenwart Druck und Macht
       ausübt.
       
       Donizettis nach Flexibilität verlangende Tempi sind für Rasches
       Grundprinzip der gehenden Bewegung eine Herausforderung, das Personal muss
       im Donizetti-Rhythmus schreiten, Rasche erzeugt damit eine Art von nervöser
       Spannung.
       
       Als Elisabetta zögert, Marias Todesurteil zu unterschreiben, bedrängen sie
       ihre schwarzen Männer, ein Hinweis auf politische Hintergründe und
       dynastische Machtverhältnisse, die Rasche ansonsten ausblendet. Zumal er
       den Chor als Handlungsträger ins Off verbannt, was sich als musikalisches
       Problem entpuppt. Denn Antonello Manacorda am Pult der Wiener
       Philharmoniker gelingt es über die Distanz oft nicht, das Geschehen
       zusammenzuhalten.
       
       Dabei beginnt die Ouvertüre verheißungsvoll, denn Manacorda lässt es nicht
       knattern, sondern setzt auf Feinschliff und Wohlklang. Betörend singt ein
       Klarinettensolo und lässt das schaurige Ende ahnen, schlank klingen die
       Streicher, diszipliniert das Blech. Auch die Besetzung versucht nicht, den
       Belcanto mit falschem veristischem Aplomp aufzuladen: Lisette Oropesa führt
       ihren lyrisch timbrierten Koloratursopran virtuos, doch ganz ohne
       Triumphgeste. Auch Kate Lindsey in der Mezzo-Rolle der Elisabetta spart
       sich keifende Schärfen, gibt aber mehr Druck als Oropesa.
       
       ## Eine archaische Eifersuchtsgeschichte
       
       Den Grundkonflikt zwischen Maria und Elisabetta deutet Rasche als
       archaische Eifersuchtsgeschichte. Maria laufen die Männer nach,
       insbesondere der von Elisabetta begehrte Roberto. Auf der Video-Scheibe
       sind immer wieder Close-ups von Maria zu sehen, nach der begehrende
       Männerhände auch missbräuchlich greifen, offenbar Elisabettas zwanghafte
       Fantasien. Dadurch erotisiert Rasche den Plot und unterwandert das eigene
       Stil-Prinzip der zermalmenden Kreis-Dynamik, das immer auch inhaltlich zu
       lesen ist.
       
       Es ist faszinierend, wie Rasche Donizettis Musik in Bewegungsenergie
       überführt und mit den riesigen Scheiben immer wieder atemberaubende Bilder
       kreiert. Die beweglichen Scheiben ordnen sich zu immer neuen
       Konstellationen, produzieren aber leider auch Störgeräusche. Ein
       interessanter, trotz sängerischer Hochleistungen aber kühl zurücklassender
       Abend.
       
       Die letzte Opernpremiere dieser Saison ist ein großer Wurf: [4][Evgeny
       Titov] verlegt [5][Peter Eötvös]’ „Drei Schwestern“ in der Felsenreitschule
       von der russischen Provinz mit Salon, Samowar, Garten und Birken in ein
       apokalyptisches Nirgendwo. Die Bühne (Rufus Didwiszus) zeigt eine
       Trümmerlandschaft mit einem geborstenen Schienenstrang, der aus einem
       Tunnel ragt und an einer Betonwand endet. An ihr wird Irina am Ende des
       Abends ein Tor aufpinseln, als gäbe es doch noch einen Ausweg aus der
       Apokalypse.
       
       Peter Eötvös’ Klassiker des zeitgenössischen Musiktheaters beginnt fast
       unhörbar: Ein durch Verstärkung verfremdeter Akkordeonklang tastet sich in
       den riesigen Raum, die Stimmen der drei Schwestern erheben sich im Prolog
       fast geisterhaft und singen von ihrem Unglück, das womöglich ein Glück für
       die kommenden Generationen vorbereitet. Bei Anton Tschechow steht diese
       Leidens-Formel am Schluss, Peter Eötvös aber stellt sie an den Beginn
       seiner Oper, wie er überhaupt Tschechows Vorlage radikal dekonstruiert hat,
       denn er bricht die Chronologie auf in drei Sequenzen, in denen die Figuren
       den immer gleichen Handlungsausschnitt aus verschiedenen Perspektiven
       durchleben.
       
       ## Die grotesken Momente des ausweglosen Unglücks
       
       Ein Kunstgriff von Eötvös’ Werk von 1998 wirkt visionär: Die Partien der
       Schwestern Mascha, Olga und Irina sowie die der Natascha komponierte Eötvös
       nämlich für hohe Männerstimmen, also Countertenöre und Sopranisten, was
       eine verfremdende Distanz und erhellende Künstlichkeit herstellt. Die
       Stimmen der drei Schwestern haben im Orchestergraben jeweils ein
       instrumentales Alter Ego, das als seelischer Spiegel fungiert, Irina etwa
       korrespondiert mit der Oboe und dem Englischhorn.
       
       Titovs Personenregie überzeichnet die grotesken Momente, unfreiwillige
       Komik und Tragik des ausweglosen Unglücks liegen nah beieinander, die
       Personenführung ist gekonnt und präzise. Exemplarisch ist die musikalische
       Umsetzung von Eötvös’ hochkomplexer Partitur: Im Graben sitzt das famose
       18-köpfige Solistenensemble Klangforum Wien unter der souveränen Leitung
       von Maxime Pascal, erhöht hinter der Szene das 50-köpfige Klangforum Wien
       Orchestra unter der Stabführung von Alphonse Cemin.
       
       Phänomenal ist das Gesangsensemble besetzt, allen voran die grandiosen drei
       Schwestern, gesungen vom betörenden Sopran des Dennis Orellana als Irina,
       dem dunkel timbrierten Mezzo von Cameron Shahbazi als Mascha und dem
       sonoren Counter von Aryeh Nussbaum Cohen als Olga sowie dem keifend
       überzeichnenden Counter Kangmin Justin Kim als Natascha im
       Witwe-Bolte-Outfit. Der Rest des riesigen Casts agiert auf gleich hohem
       sängerischen und darstellerischen Niveau. Eine Sternstunde des
       zeitgenössischen Musiktheaters, frenetisch gefeiert.
       
       11 Aug 2025
       
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