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       # taz.de -- Buch zu NS-Städtebau: Mit der Kriegsindustrie kam die Stadt
       
       > „Städtebau im Nationalsozialismus“ von Harald Bodenschatz zeigt die
       > Bauplanungen der Nazis. Es gab sie auch abseits der bekannten
       > Führerarchitektur.
       
   IMG Bild: Bauten der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Johannisthal mit dem Trudelwindkanal (1934–36), aus Bongartz 1939, S. 226
       
       Welche Berührungspunkte gibt es heute zum Städtebau des NS? Beim Flanieren
       über den Münchener Königsplatz oder an der Strandpromenade von Prora werden
       sich wohl wenige Menschen Gedanken über die Umstände machen, wie diese
       Bauten entstanden sind.
       
       Wer in Salzgitter wohnt, weiß vielleicht, dass die Gründung der Stadt mit
       den einstigen Hermann-Göring-Werken in direktem Zusammenhang mit den
       Kriegsvorbereitungen der Nazis stand. In Linz werden die Wohnsiedlungen für
       Rüstungsarbeiter auch heute „Hitlerbauten“ genannt und bieten noch immer
       einen begehrten Wohnraum.
       
       Einen umfassenden Einblick will der Band „Städtebau im Nationalsozialismus“
       geben. Acht Autor*innen zeichnen für die Beiträge verantwortlich, Primus
       inter pares ist Harald Bodenschatz.
       
       Seit mehr als 25 Jahren erforscht und vergleicht der Berliner Stadtplaner
       und Sozialwissenschaftler den Städtebau unter den europäischen Diktaturen,
       unter Stalin, Mussolini, Salazar, Franco und jetzt unter Hitler.
       
       Viele Vorhaben nicht öffentlich gemacht 
       
       Ziel dieses Buches ist es, den Städtebau im NS nicht nur mit einem
       kritischen Blick auf [1][die bekannten „Bauten des Führers“] zu beleuchten,
       sondern auch die verdeckten Bauplanungen einzubeziehen. Denn viele
       Bauvorhaben wurden von den Nazis nicht öffentlich gemacht, wenn sie der
       Militarisierung und Aufrüstung, der Repression oder Beherrschung der
       besetzten Länder dienten.
       
       Deshalb bezieht der Band auch die „Produktionsbedingungen“ des Städtebaus
       mit ein, etwa die gesetzlichen Bestimmungen, und geht ebenso auf die
       „Akteure und Interessengruppen“ ein, die oft in Konkurrenz zueinander
       standen.
       
       Das Spektrum des NS-Städtebaus reicht im Buch von der Staatsarchitektur bis
       zum Lager- und KZ-System, von den Bauwerken für das Militär bis zu den
       Heimen der Hitlerjugend. Auch Altstadtsanierungen kommen vor, zum Beispiel
       die Viertel an der „Alten Waage“ in Braunschweig oder [2][der Molkenmarkt
       in Berlin], und der immense Bau neuer Wohnungen: Kleinsiedlungen,
       Volkswohnungen, Großsiedlungen im Geschossbau und Baracken- und
       Behelfsbauten.
       
       Ebenso beschreiben die Autor*innen die vielen Infrastrukturmaßnahmen
       oder Planungen zu den annektierten und besetzten Gebieten. Vor allem in den
       Ostgebieten, wo es die Nazis auch auf die Ausbeutung von Ressourcen
       abgesehen hatten, setzte man die Vertreibung und Ermordung großer Teile der
       ansässigen Bevölkerung voraus.
       
       Wilhelm Hallbauer, der vormalige Stadtbaudirektor von Wilhelmshaven, zum
       Beispiel, ging für Łódź/Litzmannstadt davon aus, dass etwa 300.000 jüdische
       und 50.000 polnische Bewohner*innen vertrieben werden konnten. Ab
       Februar 1940 wurde der südliche Teil der Stadt geräumt und ein Ghetto
       eingerichtet.
       
       Für wachsende Städte angelegt 
       
       Der NS-Städtebau, so zeigt das Buch, sollte ausgesprochen wandlungsfähig
       sein. Legte man 1935 noch aus Kostengründen die Größe einer Volkswohnung
       für eine fünfköpfige Familie auf unter 40 Quadratmeter fest, konnte zwei
       Jahre später die Deutsche Arbeitsfront eine 4-Raum-Wohnung als Standard
       einbringen. Wandlungsfähig auch, weil ab Mitte der 1930er Jahre Großstädte
       und Ballungsgebiete wieder wuchsen.
       
       Der NS-Städtebau kann auch nicht [3][ohne die Propaganda begriffen] werden.
       Mit Filmen, Ausstellungen, Publikationen inszenierte das Regime seine
       Tatkraft und Vormachtstellung – auch im Vergleich zu Italien und zur
       Sowjetunion.
       
       Bodenschatz’ Band setzt die Arbeiten etwa von Werner Durth, Hartmut Frank
       oder Winfried Nerdinger fort, die seit den 1980er Jahren auch die
       peripheren und unspektakulären Bauprojekte in die Analyse der
       NS-Architektur und Stadtplanung einbezogen haben.
       
       Doch tauchen auch ein paar blinde Flecken im Buch auf. Korrekt weisen die
       Autor*innen zwar darauf hin, dass die Nationalsozialisten größtenteils
       in Gebäude für Militär und Aufrüstung investierten, doch unterscheiden sie
       nur unscharf Maßnahmen für die Rüstungsindustrie von denen des Militärs und
       des Zweiten Vierjahresplans.
       
       Auch bleibt außen vor, welchen Aufschwung Mitteldeutschland durch
       Militarisierung, Aufrüstung und Ausbau der Grundstoffindustrie erfuhr,
       denkt man etwa an die Entwicklung der Junkerswerke in Dessau: Die Zahl
       ihrer Beschäftigten wuchs von 4.000 (1933) auf 250.000 (1942) an. Allein in
       Mitteldeutschland gründete man acht Zweigwerke.
       
       Neu geplante Städte 
       
       Kurz gehalten ist zudem das Thema Stadtneugründungen. Genannt werden die
       prominenten Beispiele Wolfsburg oder Salzgitter. Von 1934 bis 1942 planten
       die Nazis aber viele weitere neue Städte oder ländliche Siedlungen, etwa
       die Trabantenstadt zwischen Warnemünde und Rostock für die Heinkel- und
       Arado-Flugzeugwerke oder im Rahmen des Vierjahresplanes im badischen
       Blumberg, in Schkopau und Bad Lauchstädt.
       
       Und noch ein interessanter Fakt findet nicht genügend Beachtung: Bei
       größeren Vorhaben fehlten häufig die finanziellen Mittel. Erst 1938 hatte
       das Regime zusätzliche Gelder bereitgestellt und das
       Reichsarbeitsministerium mit der Prüfung betraut. Auch das Technische Amt
       des Reichsluftfahrtministeriums konnte manch ein Bauprojekt „durchdrücken“.
       
       Doch solche Mängel kann man den Autor*innen verzeihen. Sie legen mit
       „Städtebau im Nationalsozialismus“ eine fundierte Darstellung eines Stücks
       düsterer Architekturgeschichte vor, bis ins planerische Detail.
       
       16 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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