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       # taz.de -- Neuer Roman von Dorothee Elmiger: Der ekstatischen Wahrheit nahe
       
       > Dorothee Elmiger webt in ihrem Roman ein enges Zeichendickicht um einen
       > Vermisstenfall, in dem sich zu verlieren großes Vergnügen bereitet: „Die
       > Holländerinnen“.
       
   IMG Bild: Allein im Regenwald ist es plötzlich wieder die Natur, die den Menschen unterwirft
       
       Erinnert sich noch jemand an Elisa Lam? Der mysteriöse Tod der Kanadierin,
       die man Wochen nach ihrem Verschwinden nackt in einem Wassertank eines
       Hotels in Los Angeles entdeckte, hatte 2013 für heftige Spekulationen im
       global village, dem World Wide Web, gesorgt. Irritationen hatte vor allem
       ein Überwachungsvideo ausgelöst, das Lam im Hotelfahrstuhl zeigte,
       scheinbar mit einer körperlosen Erscheinung im Gespräch.
       
       Es waren gute Jahre für Verschwörungstheorien, die zehner Jahre, als
       körnige Video- und Bildaufnahmen noch Raum für Spekulationen ließen, kurz
       vor der vollständigen digitalen Kartografierung aller menschlichen
       Bewegungen durch Netz und Raum.
       
       Ähnlich wie Elisa Lam hielt das Internet ein Jahr später auch das Schicksal
       zweier niederländischer Frauen beschäftigt. „Die Holländerinnen“, wie
       Dorothee Elmiger in ihrem neuen Roman leicht verfremdet aufblättert,
       verschwanden nach einer Wanderung im lateinamerikanischen Urwald. Rätsel
       gab dabei eine gefundene Digitalkamera auf, die 91 hintereinander
       aufgenommene Fotos zeigte – ohne dass klar wurde, was die Frauen versucht
       hatten festzuhalten. Ein Schatten, der sich auf die letzten Stunden der
       Holländerinnen legte und schon nicht mehr zum Leben gehörte.
       
       Diesem Fall will in Elmigers Roman ein Theatermacher nachgehen. Nachspüren,
       nein, nachspielen soll die letzte Wanderung der jungen Frauen eine Crew aus
       Kulturschaffenden, darunter eine Schriftstellerin, die die Erfahrung im
       Dschungel in eine tiefe Schreibkrise stürzt, von der sie nun, einige Jahre
       später, berichtet.
       
       Besagter Theatermacher steht in einer gewissen Tradition der Hybris, gibt
       zu, dass es auch [1][Werner Herzog] war, der ihn zu der Odyssee
       inspirierte. Es geht Elmigers Theatermacher denn wohl weniger um
       Detektivarbeit als um das Herstellen „ekstatischer Wahrheit“, die auch
       Herzog in Bezug auf den antiken Philosophen Longinus als wesentlich für
       seine kreative Arbeit benennt.
       
       ## Im Mittelpunkt steht die Mimesis
       
       Man taucht tief ein in die Kultur- und Philosophiegeschichte in Dorothee
       Elmigers Roman, zieht insbesondere bei den Griechen einige Schleifen. Es
       ist vor allem die Mimesis, die „Nachahmung“, der die Schweizer
       Schriftstellerin mit ihren Nachforschungen zu Leibe rückt. Weiter als mit
       Aristoteles kommt man hier allerdings mit der Frankfurter Schule: Der
       Mensch wird zum Menschen erst, indem er andere imitiert, doch tritt die
       Nachahmung letztlich in den Dienst der Herrschaft.
       
       In der „Dialektik der Aufklärung“, die auch im Camp im Dschungel als
       welliges Taschenbuch herumliegt, schreiben Adorno und Horkheimer, wie das
       Projekt der Aufklärung die Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur
       bedeute.
       
       Zeitweilig ist es im Roman freilich eher die Natur, die den Menschen
       unterwirft, wenn die Europäer:innen ohne Handyempfang durch den
       zunehmend sumpfigeren Urwald stapfen. Doch die Tendenz geht klar in die
       andere Richtung, wenn der Mensch Theater spielt oder ein Boot über einen
       Berg im von zivilisatorischen Übeln wie Errungenschaften unbehelligt
       gebliebenen Regenwald schleift.
       
       Adorno und Horkheimer bleiben bei der Natur allerdings nicht stehen: Die
       Befreiung des Menschen von der Beherrschung durch die Natur führt über die
       Herrschaft über die Natur letztlich zur Herrschaft des Menschen über den
       Menschen.
       
       ## Kolonialismus und Nord-Süd-Gefälle
       
       Wer auf das gute Leben hoffen darf, darüber entscheidet im 21. Jahrhundert
       immer noch der Kontostand, zum großen Teil aber auch der Pass. Elmiger hat
       sich schon [2][in ihrem vorangegangenen Roman „Aus der Zuckerfabrik“] mit
       Kolonialismus auseinandergesetzt. Auch „Die Holländerinnen“ schneidet
       Machtverhältnisse an (ruft Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ ins
       Gedächtnis), zwischen Ortsansässigen und den Europäer:innen oder einem
       generellen Nord-Süd-Gefälle, etwa wenn der Theatermacher ein Passionsspiel
       auf einer griechischen Insel aufführt, mit echten Geflüchteten – nicht das
       erste Mal übrigens, dass man sich an [3][den Schweizer Theaterregisseur
       Milo Rau] erinnert fühlt, der Ähnliches in Italien tat.
       
       In Elmigers nun viertem Buch klingt der Ton aus der „Zuckerfabrik“ an. Sie
       sehe überall Zeichen und Zusammenhänge, beklagt die Erzählerin darin noch,
       wohingegen sich die Erzählerin jetzt um Zusammenhänge eigentlich keine
       Gedanken zu machen bräuchte. Was auf ihrer Reise Recherche, was schon
       Material ist, das gerät von Anfang an durcheinander. Ihre Aufgabe, so
       erzählt es die Erzählerin, sei jedoch nur das Protokollieren von allem
       gewesen.
       
       Die Auftragsbeschreibung ist daher kongruent zu Elmigers eigener
       Programmatik. In einem Text zog Elmiger einmal die Verbindung zwischen
       Sammeln und Schreiben, bezugnehmend auf [4][Ursula K. Le Guins]
       Erzähltheorie der „Carrier Bag Fiction“. In der Tasche, der „Carrier Bag“,
       sind die Dinge in Unordnung, schreibt sie. Hierarchien gebe es nicht, die
       Logik der Tasche sei eine des „und“.
       
       In den „Holländerinnen“ schlägt sich dieses „und“ auf der Handlungsebene
       nieder. Durchgehend werden Erinnerungen an seltsame Begebenheiten
       hervorgekramt, die sich aber in keiner Pointe auflösen. Zurück bleibt
       lediglich ein mulmiges, ein saures Gefühl. Es ist wohl auch Jean
       Baudrillard, auf den Elmiger rekurriert, wenn sie „einige französische
       Soziologen, deren Werk sie selbst stets nur gestreift habe“, erwähnt: Alle
       Zeichen lassen sich untereinander austauschen, nur nicht gegen das Reale.
       Der Referenzwert ist abgeschafft.
       
       ## Netz aus Verweisen
       
       In Elmigers Netz aus Verweisen, in dem sich zu verlieren großes
       intellektuelles Vergnügen bereitet, stehen die Zeichen, so sie erwähnt
       werden, kursiv. Ziemlich genial ist schließlich die Szene, in der der
       Theatermacher nach echten Zeichen in der Landschaft sucht, die Hinweise auf
       den Tod der Holländerinnen geben könnten. Es ist erst hier im Wald, als der
       Erzählerin bewusst wird, dass ihre Irrwege auf keine „Auflösung“ zulaufen.
       
       Wohin es hingegen führt, wenn sich die Zeichen zu einer regelrechten
       Zeichenpsychose verwachsen, zeigt Elmiger in einem der zahlreichen
       Nebenstränge, die wie auch schon im Buch zuvor das Wurzelwerk bilden, das
       die Lektüre ihrer Texte so ungemein fruchtbar macht.
       
       Nach einer fehlerhaften Kühlschrankreparatur verschanzt sich ein New Yorker
       Ehepaar aus Scham in der Wohnung, produziert einen „Hypertext aus der
       Belagerung“ und verliert sich in Recherchen zur Kobaltförderung im Kongo,
       bis schließlich die Wohnung in Brand gerät. Wie bei den Fotos auf der
       Kamera der Holländerinnen lassen sich auch bei dem Ehepaar die letzten
       Spuren im Digitalen nachvollziehen: Statt eines Abschiedsbriefs
       hinterlassen die beiden nur einen irrwitzigen Browserverlauf.
       
       Dass, wer gesund bleiben will, einen gewissen Abstand zur Zeichenwelt
       gewinnen muss, macht Elmiger schon in der Erzählhaltung deutlich. „Die
       Holländerinnen“ wird in indirekter Rede erzählt, und überhaupt: Ist die
       Figur des Erzählers nicht „uns etwas bereits Entferntes und weiter noch
       sich Entfernendes“? Elmigers Erzählerin kapituliert schließlich vor den
       Zeichen, ihr Schaffen befindet sich in einem Prozess der Auflösung.
       
       Doch es ist ein bartlebyisches Nicht, dem dieser Vorgang folgt. Die
       Erzählerin begibt sie sich so in Opposition, erklärt sich zur Gegnerin
       eines Zuviel, eines Immermehr an Eindrücken, Deutungsmustern. Widerstand,
       zu dem Gedanken regt „Die Holländerinnen“ an, kann sich heute vielleicht
       ausschließlich im Passiv abspielen.
       
       16 Aug 2025
       
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