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       # taz.de -- Korruption in der Ukraine: Selenskyjs Schritt weg von Europa
       
       > Ukraines Präsident Selenskyj wollte per Gesetz die Unabhängigkeit der
       > Antikorruptionsbehörden beenden. Nach Protesten lenkt er ein. Wird sein
       > Volk ihm verzeihen?
       
   IMG Bild: Scheint nicht mit Protesten in diesem Ausmaß gerechnet zu haben: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, im Juli 2025
       
       Berlin taz | Diese Woche fanden in der Ukraine die ersten massiven
       politischen Proteste seit Beginn der Vollinvasion Russlands im Jahr 2022
       statt. Auslöser war die Verabschiedung des Gesetzes 12414 durch die
       Werchowna Rada. Das ukrainische Parlament hat die beiden
       Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die
       Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP), damit der
       Generalstaatsanwalt unterstellt.
       
       Faktisch bedeutet das, die Unabhängigkeit dieser Behörden zu demontieren.
       Am selben Tag, als die Menschen bereits massenhaft zu Protesten auf die
       Straße gingen, unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
       das umstrittene Gesetz. Das führte zu noch größerer Empörung in der
       Bevölkerung und zu massiver Kritik internationaler Partner.
       
       Die beiden Antikorruptionsbehörden NABU und SAP wurden unmittelbar nach dem
       Sieg der Euromaidan-Revolution gegründet. Einerseits war dies eine Antwort
       auf eine zentrale Forderung der damaligen Demonstranten: die Bekämpfung der
       Korruption im Land. Andererseits war der Aufbau von NABU und SAP eine
       Bedingung der EU für die Gewährung finanzieller Unterstützung und
       Visafreiheit für die Ukraine. Das Land hatte somit endgültig den Weg zur
       europäischen Integration eingeschlagen – ebenfalls eine Forderung des
       Euromaidan.
       
       Das Gesetz, mit dem diese Institutionen geschaffen wurden, sah vor, dass
       ausschließlich sie strafrechtliche Ermittlungen wegen Korruption in Höhe
       von mehr als 4 Millionen Hrywnja (etwa 83.000 Euro) unter Beteiligung von
       Top-Beamten durchführen dürfen und dass sich niemand in ihre Arbeit
       einmischen darf. Das NABU ist dafür zuständig, vor der Anklageerhebung die
       Ermittlungen durchzuführen, und leitet die Fälle dann an die SAP weiter.
       Die SAP ist eine separate Abteilung der Staatsanwaltschaft, die diese Fälle
       vor Gericht vertritt. Die Leiter der Behörden werden in offenen
       Ausschreibungen gewählt. In den Wahlkommissionen beider Behörden sind
       Vertreter internationaler Organisationen und der Zivilgesellschaft.
       
       ## Ein Rückschritt um zehn Jahre
       
       Mit dem neuen Gesetz fällt die Ukraine in der [1][Korruptionsbekämpfung] um
       zehn Jahre zurück. Es gewährt dem Generalstaatsanwalt direkte Kontrolle
       über die Mitarbeiter der SAP und das Recht, Fälle vom NABU zu übernehmen
       und „im Falle einer ineffizienten Voruntersuchung“ an andere Behörden
       weiterzuleiten. Da der Generalstaatsanwalt vom Präsidenten ernannt wird und
       das Parlament nur über den vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten
       abstimmt, verursachte das neue Gesetz auch die Sorge, dass der Präsident
       direkten Einfluss auf die Ermittlungen der Antikorruptionsbehörden nehmen
       kann.
       
       Bisher konnte nur der Leiter der SAP ein Verfahren wegen
       Korruptionsverdacht gegen hochrangige Beamte erheben und nur ihm
       unterstanden die Staatsanwälte der SAP. Nun hat der Generalstaatsanwalt
       diese Rolle. Ebenso wird befürchtet, dass er Einfluss auf bereits eröffnete
       Verfahren nehmen kann.
       
       Darüber hinaus gibt auch die Art und Weise, wie dieses Gesetz im Parlament
       verabschiedet wurde, Anlass zur Besorgnis. Ursprünglich betraf es die
       Untersuchung von Fällen verschwundener Personen in der Frontzone. Das
       Parlament hatte den Entwurf im April bereits verabschiedet. Am 22. Juli
       wurden jedoch unerwartet Änderungen hinzugefügt, die die Arbeit der NABU
       und der SAP sowie die Befugnisse des Staatsanwalts betrafen.
       
       Für das Gesetz stimmten 263 Abgeordnete, die meisten davon aus der
       Mehrheitspartei des Präsidenten „Diener des Volkes“. Gleichzeitig stimmten
       mehrere Mitglieder der Präsidentenpartei nicht nur dagegen, sondern riefen
       offen dazu auf, das Gesetz abzulehnen. Noch am selben Tag begannen in
       Kyjiw, Lwiw und Odessa erste Massenproteste. Dennoch unterzeichnete
       Selenskyj in derselben Nacht das Gesetz.
       
       ## Friedliche Demonstrationen gegen das Gesetz
       
       Am nächsten Tag breiteten sich friedliche Demonstrationen mit der Forderung
       nach einer Aufhebung des Gesetzes bereits auf [2][15 Städte] in der Ukraine
       aus, darunter auf die Frontstädte Charkiw und Sumy. An der Kundgebung in
       Kyjiw nahmen etwa 9.000 Demonstranten teil.
       
       Die Arbeit des NABU und der SAP war zwar vor diesen Ereignissen in der
       Gesellschaft kritisiert worden. Eine vollständige Prüfung der Institution
       im Jahr 2025 [3][durch die unabhängige Kommission] ergab eine Effizienz von
       1,4 von 3. Aber es war gerade der Angriff auf die Unabhängigkeit der
       Antikorruptionsbehörden, der die Bevölkerung empörte.
       
       Mit dem Gesetz 12414 verstieß Selenskyj gegen einen stillschweigenden
       Gesellschaftsvertrag, der in der Ukraine seit 2022 bestand: Die
       Zivilgesellschaft unterstützt den Präsidenten trotz zahlreicher kleinerer
       Fehler, solange er den Widerstand der Ukraine gegen Russland anführt und
       nicht vom Weg in die EU abweicht.
       
       ## „Alle Kämpfe und Leiden umsonst“
       
       Sie habe das Gefühl, dass „all ihre Kämpfe und Leiden umsonst waren“,
       erklärt eine der Demonstrantinnen in Charkiw, Inessa, und so ginge es
       vielen. Der Fehler könnte Wolodymyr Selenskyj nicht nur die Unterstützung,
       sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung kosten. Warum Selenskyj sich für
       diesen Schritt entschied, erschließt sich den meisten Ukrainern nicht.
       
       Mit [4][Protesten in diesem Ausmaß] scheint Selenskyj nicht gerechnet zu
       haben. Am Tag nach der Unterzeichnung des Gesetzes berief er die Leiter
       aller Strafverfolgungsbehörden – darunter den Generalstaatsanwalt, die SAP
       und die NABU – zu einem Treffen ein. Er bat sie, innerhalb von zwei Wochen
       ein Dokument zur effektiveren Zusammenarbeit dieser Behörden auszuarbeiten,
       und versprach, einen entsprechenden Gesetzentwurf in das Parlament
       einzubringen. Gleichzeitig haben 48 Abgeordnete aus verschiedenen
       Fraktionen einen eigenen Gesetzentwurf im Parlament eingereicht, der die
       Befugnisse der SAP und des NABU wiederherstellen soll.
       
       Kritik kam auch aus dem Ausland. Internationale Institutionen und die EU
       forderten von Selenskyj, das Gesetz 12414 wieder aufzuheben. Fällt die
       internationale Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten weg, sind die
       gesamte finanzielle und militärische Hilfe, die die Ukraine für den Kampf
       gegen Russland [5][dringend benötigt], sowie Investitionen in den
       Wiederaufbau gefährdet.
       
       Seit dem Euromaidan ist in der Ukraine eine Generation junger Menschen
       herangewachsen, für die der Weg des Landes in die EU und das Leben in einem
       demokratischen Rechtsstaat unverhandelbar sind. Die meisten derjenigen, die
       derzeit auf die Straße gehen, sind genau diese jungen Menschen. Von ihnen
       hat jeder entweder Angehörige oder Freunde an der Front verloren oder jetzt
       dort.
       
       ## Neuer Gesetzentwurf im Parlament
       
       Am Donnerstagabend legte Selenskyj [6][dann doch schon den von ihm
       angekündigten Gesetzentwurf] dem Parlament zur Prüfung vor. „Der Text ist
       ausgewogen. Er enthält reale Instrumente, jeglicher russischer Einfluss
       wurde ausgeschlossen und die Unabhängigkeit des NABU und der SAP ist
       gewährleistet“, schrieb er. Der neue Gesetzentwurf sieht vor, dass der
       Generalstaatsanwalt und seine Stellvertreter keine Weisungen an die
       Staatsanwälte der SAP erteilen dürfen. Außerdem wird festgelegt, dass die
       Mitarbeiter der SAP nur der Leitung der SAP unterstehen. Laut dem
       Gesetzentwurf ist es dem Generalstaatsanwalt auch untersagt, den Ermittlern
       des NABU Weisungen zu erteilen.
       
       Das NABU unterstützte seinerseits den Gesetzentwurf des Präsidenten. „Er
       stellt alle Verfahrensbefugnisse und Garantien für die Unabhängigkeit des
       NABU und der SAP wieder her“, erklärte das NABU und wies darauf hin, dass
       es an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt war. Es forderte das
       Parlament auf, den Gesetzentwurf so schnell wie möglich zu verabschieden.
       
       Starker interner Druck und internationale Kritik zwangen den ukrainischen
       Präsidenten, von seinen Absichten abzurücken. Doch der Nachgeschmack dieser
       Maßnahmen wird noch lange anhalten. Nun könnte Selenskyj mit einem neuen
       Problem konfrontiert sein. Für die Verabschiedung des neuen Gesetzentwurfs
       fehlen ihm Stimmen im Parlament. Für den Gesetzentwurf 12414 hatten auch
       die mitgestimmt, die aus Eigeninteresse keine Unabhängigkeit der
       Antikorruptionsbehörden wollen. Mit ihnen muss Selenskyj nun verhandeln.
       
       Mit den Protesten gegen Selenskyjs Maßnahmen streben die Ukrainer nicht
       seine Stürzung an – schon gar nicht in Zeiten eines existenziellen Krieges.
       Sie werden ihre Entscheidung bei den Wahlen treffen, wenn die Zeit gekommen
       ist. Mit den lautstarken Protesten wollen die Ukrainer den Präsidenten und
       die Parlamentarier dazu bringen, auf die Gesellschaft zu hören.
       
       Eine aktive und geeinte Zivilgesellschaft, die sich bereits seit
       dreieinhalb Jahren gegen Russland stellt.
       
       25 Jul 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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