# taz.de -- Liebling der MassenUli Hannemann : Schlecht Kirschen essen
Jeden Sommer sinkt verlässlich meine Laune in den Keller. Denn es ist
Kirschenzeit, und die ist für uns gleichbedeutend mit der Zeit des
Verlusts, der Enttäuschung und des Diebstahls.
Jetzt beginnt der Kampf Mensch gegen Amsel, und der sieht uns chancenlos.
Vielleicht kann ich ja eines Tages die entsprechenden Fortbildungsmodule
aufsatteln, um mich vom Suppenkasper zur Vogelscheuche weiterzubilden. Denn
so amateurhaft wie ich den Heimatschutz zurzeit praktiziere, ergibt das
keinen Sinn: Von morgens bis abends vor dem Baum mit den Armen zu wedeln
und zu schreien, „Weg da, ihr Schweine!“
Die lachen mich nur aus. Es fehlt gerade noch, dass sie mir die Kerne auf
den Kopf spucken. Auf die Gefahr hin, kleinlich zu wirken: Die Amseln
könnten uns wenigstens was abgeben von dem bisschen, das uns der späte
Frost gelassen hat. Die Hälfte, ach was: ein Viertel oder wenigstens zehn
Prozent.
Eine Kirsche, nur zum Probieren.
Bitte!
Es ist so demütigend, das kann man überhaupt keinem erzählen. Wir, die
angebliche Krone der Schöpfung, werden von einem kleinen Vogel nach Strich
und Faden verhöhnt und ausgeraubt. Keine Ahnung, woher heutzutage das
Gefühl vieler Menschen kommt, von jüngeren abgehängt zu werden; mir
persönlich erscheint es weitaus schlimmer, von einem hundert Gramm schweren
Piepmatz mit erbsengroßem Gehirn in den Arsch getreten und wie ein Tanzbär
vorgeführt zu werden.
Wir können ihnen unsere eigenen Kirschen noch nicht mal abkaufen – sie
brauchen ja kein Geld. Ihre Bedürfnisse beschränken sich auf ein paar
Nestbaumaterialien, Regenwürmer und eben Kirschen. Damit halten sie uns
Konsumisten elegant den Spiegel vor. Denn wir benötigen Autos, Kreditkarten
und Sonnenschutzmittel.
„Wenn dieser flugunfähige Riesenvogel mit Plastiklatschen Kirschen haben
will“, denken sie bestimmt, „soll er doch sein Auto nehmen und zu so einem
Erdbeerhäuschen fahren. Da kann er mit seinem tollen Geld gern einen
Zentner Kirschen kaufen.“ Und nun – Amseln sind ja mit die besten Sänger
der Vogelwelt – fangen sie an, den Kirschbaumsong zu singen: „Das ist unser
Baum! Schmeißt doch endlich Arsch und Loch aus unserm Garten raus …“
Deshalb bin ich jedes Mal erleichtert, wenn der Frost bereits die Blüte
komplett vernichtet, sodass niemand etwas abbekommt, also auch die Amseln
nicht. Das nimmt mir eine Riesenlast von meiner schwarzen Seele. Und noch
besser: Neuerdings sieht es sogar fast so aus, als ob der Baum krank wird
und stirbt. Die Blätter sind braun wie eine von der Miniermotte befallene
Kastanie. Das erfüllt mich mit tiefer Schadenfreude, denn was ich nicht
habe, soll auch sonst niemand haben. Nur ein toter Kirschbaum ist ein guter
Kirschbaum.
Oft schwelge ich in Gewaltfantasien. Ich stelle mir vor, wie der Baum
voller Kirschen lichterloh brennt, quasi rot in Rot. Die Amseln schreien
gellend. Sie sind zu vollgefressen, um flüchten zu können, ehe ihr Gefieder
Feuer fängt, und müssen elendiglich verbrennen.
Doch sofort besinne ich mich: Wann bin ich eigentlich ein derart schlechter
Mensch geworden? Sollte mich mein immenser Erfolg korrumpiert und darob
fühllos für die Belange anderer Wesen gemacht haben? Warum empfinde ich
nicht einfach die unbändige Freude eines Menschen, der entdeckt, wie frei
er ist, weil er sich endgültig von allem irdischen Besitz gelöst hat? Fort
mit den Anhaftungen von Geiz, Gier und Selbstmitleid! Wir können so viel
von den Amseln lernen. Es gibt kein Eigentum mehr. Alle sind schwarz.
Fliegen ist umsonst und klimaneutral. Und Obst schmeckt ohnehin am besten,
wenn man es gestohlen hat.
4 Aug 2025
## AUTOREN
DIR Uli Hannemann
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