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       # taz.de -- Archiv für alternatives Schrifttum: Auch der Mescalero hat hier seinen Platz
       
       > Von wegen alternativlos: In Duisburg wird im Afas-Archiv seit 40 Jahren
       > gesammelt, was alles möglich gewesen wäre in Deutschland an Anderssein.
       
   IMG Bild: Von wegen Altpapier: Im Afas wird linke Schriftkultur gehegt und gepflegt
       
       Es riecht gleich anders. Wie früher, nach dem alternativen Mief der
       Aufbruchsjahre in den 60ern, 70ern, 80ern, aus WGs und den
       selbstverwalteten Druckereien? Vielleicht ist das überinterpretiert. Aber
       etwas Säuerliches liegt schon der Luft, wenn man in Duisburg die beiden
       riesigen Archivräume des Afas betritt, des [1][Archivs für alternatives
       Schrifttum].
       
       Der Duft aus dem Gestern ist aber auch leicht erklärt: Früher hatte Papier
       viel mehr Säure. Und die umspielt die Nasen noch heute, wo Aberzigtausende
       Druckwerke von damals lagern.
       
       Miriam Bajorat, 27, eine der fünf Afas-Angestellten, führt mich herum. Die
       beiden Lagerräume sind eher Hallen, voll mit Rollregalen. „Die waren schon
       hier, als das noch ein Quelle-Lager war. Ein Glücksgriff. Wir mussten sie
       nur mit Holzböden umbauen.“ Die Regale sind bis unter die Decken
       pickepackevoll. 20.000 verschiedene Broschüren lagern hier, 14.000 Plakate,
       50.000 Flugblätter. Und über 11.000 Zeitschriftentitel – manche nur mit
       einem Exemplar, andere komplett, etwa über 50 Jahre Graswurzelrevolution
       (Untertitel: „für eine gewaltfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft“).
       Zusammen sind es 2,5 Regalkilometer Papier.
       
       Der Blick schweift an die Wände des Raumes. Auf Tischen sind Aufkleber
       gesammelt, beschriftete Umhänge wider den § 218, T-Shirts mit politischen
       Botschaften, Sticker wie „ran dale“. „Objekte statt Flachware“ sagt Miriam
       dazu, mit Flachware meint sie das gedruckte Papier. Zu den Artefakten
       gehören auch Brettspiele wie Provopoli, die einstige Antwort auf Monopoly,
       oder das sarkastische Spiel Junta von 1974, in dem man lernt, ein besonders
       skrupelloser Diktator zu werden.
       
       ## Jede Menge Friedenstauben
       
       Ein Stück weiter gibt es kistenweise Buttons, aus dem gesamten Spektrum der
       sozialen Bewegungen, aber auch mit der allgemein gültigen Botschaft „Ich
       bin eine unanständige Deutsche“. Bajorat sortiert und digitalisiert sie
       gerade und hat als Kunstwissenschaftlerin den Blick fürs Design:
       „Unglaublich, wie verschieden Friedenstauben aussehen können, oder?“
       
       Archivar Bernd Barenberg, 49, studierter Philosoph, bekommt ein paar Tests.
       Ist der Querschläger vorhanden? Barenberg scrollt sich am Bildschirm durch
       den Afas-Katalog. Treffer: Die Zeitung der
       Bundeswehr-Reservistenverweigerer vom Bundestreffen 1981 in Darmstadt liegt
       vor. Und das Bunte-Liga-Echo, das „Zentralorgan der autonomen und
       undogmatischen Leibesübungsbewegung Aachens“?: Fast hundert Monatshefte von
       1988 bis 1992 sind komplett archiviert. Der WiWisch? Fachschaftszeitung von
       links-alternativen Wirtschaftsstudierenden in Aachen, Köln und Münster? Die
       Erscheinungsjahre 1977–1981 sind annähernd komplett.
       
       Im Archiv suchen wir das Original des Mescalero-Textes mit dem Zitat von
       der „[2][klammheimliche Freude]“ nach dem RAF-Mord an Generalbundesanwalt
       Siegfried Buback. Zwei Griffe, kurz in der richtigen Kiste kramen und zack,
       da ist Dokument 36: Ein Original der Göttinger Nachrichten, der
       Asta-Zeitung von damals. Selbstverständlich, sagt Barenberg, liege auch die
       Auflösungserklärung der RAF vor. Mit dem schönen schriftlichen Hinweis der
       Verfasser: „… ein Komma fehlt, nicht dass das noch zu Diskussionen führt!“
       
       „Hoch die, nieder mit …“ – „Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern
       immer gewarnt haben.“ Waren das Zeiten! Aber warum werden sie ausgerechnet
       in Duisburg seit 1985 ausgeleuchtet? Weil zwei der Afas-GründerInnen aus
       der Gegend kommen; sie studierten am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und
       forschten für ihre Abschlussarbeiten im dortigen Apo-Archiv. Das Afas
       finanziert Miete und die 2,6 Stellen über einen gemeinnützigen
       Trägerverein, Spenden, Zuschüsse der Stadt und einer Förderung durch das
       Land NRW. Zu Besuch kommen ForscherInnen, auch Neugierige aus dem
       künstlerischen Bereich und immer wieder „Privatleute mit
       Erinnerungsinteresse“, wie Bajorat sagt.
       
       ## Es fehlt etwas an Basisdemokratie
       
       Wo gibt es Lücken, Schwächen? Überall, lacht Bernd Barenberg. Konkret: „Wir
       haben wenig aus ostdeutschen Szenen“, politische Bückware der DDR-Zeit
       sozusagen. Und: „Das Wirken der westdeutschen K-Gruppen ist ganz gut
       dokumentiert, weniger gibt es von autonomen, basisdemokratischen Gruppen,
       die haben weniger verschriftlicht, da wünschen wir uns mehr Interna,
       Protokolle und Korrespondenzmaterial.“
       
       Auch nur annähernd vollständig werde das Afas nie sein. „Geschichte ist das
       größte Buch der Welt, das man nie ganz verstehen wird“, gibt Miriam Bajorat
       zu bedenken. Heute schon habe man für zehn Jahre Arbeit, um das Material zu
       katalogisieren. Und, fügt Barenberg hinzu: „Irgendwann müssen wir auch
       anfangen, Homepages zu speichern. Wird ein Riesending, das in den Griff zu
       kriegen.“
       
       Zudem, sagt Bajorat, komme auch analog mehr rein, als man abarbeiten könne.
       So viel, dass man vielleicht nächstes Jahr schon locker 15 Jahre Arbeit vor
       sich hat. Grüße von Sisyphos.
       
       11 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://afas-archiv.de/
   DIR [2] /Mescalero-taucht-auf/!1189889/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Müllender
       
       ## TAGS
       
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