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       # taz.de -- Erinnerungskultur in Berlin: Von Ossietzky bis Heß
       
       > Um kein Pilgerort zu sein, wurde das Kriegsverbrechergefängnis in Berlin
       > abgerissen. „Spandau Prison“ erinnert an den Ort, wo einst auch NS-Gegner
       > saßen.
       
   IMG Bild: Wachablösung im Festungsgefängnis, Aufnahme undatiert
       
       Berlin taz | Kaum etwas erinnert in der Spandauer Wilhelmstadt an das
       Gefängnis, das hier einst stand. Heute befinden sich hier ein Parkplatz und
       ein Kaufland. Nur drei alte Offiziershäuser und die Walnussbäume, die der
       Naziarchitekt Albert Speer während seiner Haft pflanzte, weisen auf den
       Ort. Doch wer davon nicht weiß, erfährt es auch nicht.
       
       Denn nachdem sich der letzte Insasse, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß,
       1987 in der Gartenlaube des Gefängnisses erhängt hatte, beschlossen die
       Alliierten, das Gebäude noch im selben Jahr abzureißen und alle Spuren zu
       beseitigen. Hintergrund ist die Angst, das Kriegsverbrechergefängnis werde
       zu einem Pilgerort für Neonazis und rechtsextreme Gruppen. Und tatsächlich:
       Immer wieder nutzen diese den 17. August, den Todestag von Heß, [1][um nach
       Spandau zu marschieren].
       
       Erstmals setzt sich nun die [2][Ausstellung „Spandau Prison“] kritisch mit
       der Geschichte des Gefängnisses in der Zeit von 1877 bis 1987 auseinander.
       Anlass ist das 80-jährige Kriegsende. Da das Gebäude selbst nicht mehr
       existiert, findet die Ausstellung im Zeughaus der Zitadelle Spandau statt.
       
       Die Zitadelle sei der passende Ort, so die Kuratorin am Donnerstagabend bei
       der Eröffnung. Denn häufig werde sie mit dem Kriegsverbrechergefängnis
       verwechselt. Grund dafür seien zum einen gewollte Anspielungen der
       Architekten, etwa der Juliusturm am Eingangstor. Schuld sei aber vor allem
       ein „Panorama“-Beitrag aus den 1960er Jahren, der das Kriegsgefängnis
       fälschlicherweise als Zitadelle bezeichnete.
       
       ## Sprengstoffanschlag zur Befreiung
       
       Die Arbeiten für ein neues „Central-Festungsgefängnis“ in der Wilhelmstadt
       begannen im Jahr 1877. Bis nach dem Ersten Weltkrieg saßen dort
       straffällige Soldaten und Kriegsgefangene. Im Zuge der Novemberrevolution
       befreiten Arbeiter die Insassen. Nach dem Reichstagsbrand inhaftierte die
       NS-Regierung hier politische Oppositionelle, unter ihnen der
       [3][Rechtsanwalt Hans Litten] und der Journalist Carl von Ossietzky.
       
       Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren in Spandau politische Gefangene
       inhaftiert. Viele von ihnen wurden zum Tode in Plötzensee verurteilt.
       [4][Zum ersten Mal auch Frauen], insbesondere aus dem polnischen
       Widerstand.
       
       In der Zeit nach 1945 wurden in Spandau sieben Kriegsverbrecher, die in den
       Nürnberger Prozessen verurteilt wurden, inhaftiert. Doch im Laufe der Jahre
       wurden die Stimmen nach ihrer Begnadigung lauter. Nach der Entlassung von
       Reichsjugendführer Baldur von Schirach und Albert Speer 1966 spitzte sich
       die Debatte zu. Die rechtsextreme Terrorgruppe „Befreiungskommando Rudolf
       Heß“ verübte gar einen Sprengstoffanschlag auf ein benachbartes Gebäude, um
       den letzten Insassen zu befreien.
       
       Das Gefängnis habe den Alltag der Spandauer zu jeder Zeit geprägt, sagt
       Johannes Füllberth, Referatsleiter in der Staatsbibliothek zu Berlin.
       Füllberth hat über die Zeit vor den [5][Nürnberger Prozessen] promoviert.
       In dieser Zeit seien die Spandauer mit den Gefangenen in Kontakt gekommen,
       wenn diese am Bahnhof angekommen seien oder Termine in der Stadt wahrnehmen
       mussten.
       
       Weil die Haftbedingungen „so schlimm waren“, sei so mancher Wächter mit den
       Gefangenen gar durch die Kneipen gezogen. „Das sind aber nur Einzelfälle,
       die sich schön erzählen“, sagt Füllberth. Und an diese Zeit erinnern nur
       wenige Fotos, die in der Ausstellung gezeigt werden.
       
       ## „Kein Ort der Belehrung“
       
       An die Zeit der Kriegsverbrecher hingegen erinnern sich Zeitzeugen: „Viel
       erfahren haben wir über das Gefängnis als Kinder nicht“, erzählt die
       Spandauerin Birgit Schmidt Möller in einem Interview, das in der
       Ausstellung zu sehen ist. Die Erwachsenen haben nicht über den Krieg
       sprechen wollen. „Ich wusste eigentlich nur, dass mehrere dort saßen und
       Heß am Ende allein bewacht wurde“, sagt sie. Ihrer Familie habe damals ein
       Garten direkt hinter dem Gefängnis gehört. „Von dort haben wir die Wachen
       sehen können“, erinnert sie sich.
       
       Die Ausstellung zeigt nur wenige Objekte, die aus der Zeit des Gefängnisses
       stammen. Das sei eine besondere Herausforderung gewesen, sagt die Kuratorin
       Urte Evert zur taz. „Wir haben einen kleinen Stein von der Fassade des
       Gefängnisses bekommen, den wir in der Ausstellung zeigen.“ Um zu
       verhindern, dass die Ausstellung zu textlastig werde, habe man mit zwei
       Comic-Künstlern zusammengearbeitet. Auf Bannern sind historische Szenen wie
       die der Novemberrevolution lebhaft abgebildet.
       
       Evert ist wichtig, dass ein Museum nicht nur ein Ort von „Belehrung“ ist.
       Interaktive Stationen, etwa zum Entschlüsseln eines Klopfcodes, regen die
       Besuchenden zum Mitmachen an. Der Code wurde von den Verfolgten in der
       NS-Zeit entwickelt, denen es verboten war, miteinander zu kommunizieren.
       Also klopften sie gegen die Heizungsrohre. Eine weitere Besonderheit der
       Ausstellung sind die einzelnen Tastobjekte für sehbehinderte und blinde
       Menschen.
       
       Zudem sollen die Besucher:innen auch selbst ihre Gedanken teilen und
       ihre Meinung äußern können, etwa wie mit dem Ort heute umgegangen werden
       sollte. „Ich hoffe, dass sich die Menschen in einer Art austauschen, die
       durchaus kontrovers, aber nicht aggressiv ist“, so Evert. Auch am
       Ausstellungsabend diskutieren Besucher:innen trotz Hitze darüber, wie
       mit einem solchen Ort umgegangen werden könnte.
       
       ## War der Abriss richtig?
       
       Die Entscheidung für den Abriss des Gefängnisses ist umstritten. „Ich
       denke, es wäre besser gewesen, das Gebäude zu erhalten und daraus eine
       Gedenkstätte für diejenigen zu machen, die während der Nazizeit dort
       inhaftiert waren und hingerichtet wurden“, sagt die Historikerin. Sie könne
       zwar verstehen, dass der Versuch gemacht worden sei, eine „Pilgerstätte“ zu
       verhindern, es gebe aber ja so viele Orte aus dieser Zeit. An jedem
       einzelnen müsse gut überlegt werden, wie Erinnerung dort stattfinden könne.
       „Ich hätte mir einen ähnlichen Umgang wie in Nürnberg gewünscht, der nicht
       attraktiv für Nazis ist“, sagt Evert.
       
       Der ehemalige Leitende Kriminaldirektor Bernd Finger hingegen ist der
       Meinung, es sei richtig gewesen, das Gebäude abzureißen: „Nur so konnte
       dafür gesorgt werden, dass die jahrelangen Naziaufmärsche und gewalttätigen
       Befreiungsversuche, die ich selbst miterlebt habe, ein Ende haben“, sagt er
       der taz. Den Ort vergessen dürfe man aber nicht.
       
       17 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rudolf-Hess-Demo-in-Berlin/!5524578
   DIR [2] https://www.zitadelle-berlin.de/ev_exhibition/spandau-prison-1877-1987/
   DIR [3] /Biografie-ueber-Hans-Litten/!5860634
   DIR [4] /NS-Widerstand-der-Roten-Kapelle/!5947065
   DIR [5] /Buch-ueber-die-Nuernberger-Prozesse/!5923233
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johanna Weinz
       
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