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       # taz.de -- Erdbebenvorhersage: Eine erdbebenartige Veränderung
       
       > Bislang werden Erdbeben mit Seismometern gemessen. Ein Schweizer
       > Forschungsteam versucht es mit einer anderen Methode: dem Glasfasernetz.
       
   IMG Bild: Das türkische Atakya nach dem Beben 2023
       
       Die Fassaden massiver Hochhäuser bröseln, Beton stürzt metertief auf die
       Straßen, zerschmettert die parkenden Autos, neben denen der Asphalt
       aufreißt und sich Fahrbahnen in Kraterlandschaften verwandeln. Küsten
       werden überflutet, Bäume und Strommasten fallen um, Feuer brechen aus.
       Menschen sterben.
       
       Immer wieder werden ganze Regionen durch Erdbeben verwüstet. Besonders
       verheerend war eines [1][Ende März dieses Jahres in Myanmar]. Noch immer
       sind die Menschen damit beschäftigt, Trümmer zu beseitigen, Spenden zu
       sammeln, Opfer zu zählen. So viele Menschenleben, die unversehrt geblieben
       wären, könnte man diese Katastrophen vorhersehen wie das Wetter.
       
       In der Seismologie versuchen das Forschende der Geophysik schon seit über
       100 Jahren. Berichte über Erdbeben werden festgehalten, die Ströme heißen
       Gesteins im Inneren der Erde aufgezeichnet, und seismische Wellen mit ihren
       Längen und Stärken gemessen. In den Nachrichten hören wir dann von der
       sogenannten Richterskala, die die Stärke von Erdbeben darstellen soll. Das
       stärkste je gemessene Beben geschah 1960 in Chile mit einer Magnitude von
       9,5. Zwei Millionen Menschen verloren ihre Heimat. Ein Beben der Stärke 9,1
       im Indischen Ozean führte 2004 zur Tsunamikatastrophe, in deren Flutwellen
       230.000 Menschen starben. Eine ähnlich hohe Magnitude verursachte 2011 die
       Katastrophe im Atomkraftwerk von Fukushima.
       
       Ständig und überall auf der Welt bebt die Erde. Das Geoforschungszentrum
       der Helmholtz-Stiftung in Potsdam geht von einem sehr starken Beben mit
       einer Magnitude von über 8 pro Jahr aus. Weil unter dem Boden von
       Mitteleuropa nicht unmittelbar Kontinentalplatten aufeinander stoßen,
       messen Seismologen hier meist nur leichtere Erschütterungen mit einer Dauer
       von wenigen Sekunden. Ihre gesammelten Daten führen zu der Annahme, dass es
       bei uns etwa 4.600 Beben im Jahr gibt, alle sieben Jahre eines mit der
       Stärke 5 oder höher. Die größten Unglücke sind länger her: 1911 zerstörte
       ein Beben in Albstadt-Ebingen mehrere Gebäude. 1356 starben bei einem
       Erdbeben in Basel bis zu 2.000 Menschen.
       
       „Vereinfacht ausgedrückt, werden Erdbeben traditionell mit Pendeln
       gemessen“, erklärt Andreas Fichtner, Geophysiker an der ETH Zürich. „Ein
       Gewicht hängt an einer Feder, die an ein Gestell montiert wird.“ Wenn die
       Erde bebt, bewegt sich das Gestell. Durch seine Trägheit bleibt das Gewicht
       jedoch in Ruhe. „Diese Relativbewegungen lassen sich aufzeichnen“, so
       Fichtner. Nur: Diese empfindlichen Seismometer sind teuer. Sie müssen
       gewartet, mit Strom versorgt werden. Und für eine breite Datenlage müssten
       sie überall auf der Welt stehen, um Beben zu messen. In ärmeren Ländern ist
       das nicht der Fall – und schon gar nicht in den Ozeanen.
       
       Andreas Fichtner und seine KollegInnen arbeiten mit einer verblüffenden und
       kostengünstigen Methode, um bessere und großflächigere Messungen möglich zu
       machen. Ihre Lösung: das Glasfasernetz unter unseren Füßen. „Wir nutzen
       eine Funktion der bestehenden Glasfaserinfrastruktur“, erklärt Fichtner.
       Teure Infrastruktur brauche es dazu nicht, manchmal auch keine zusätzlichen
       Geräte. „Es ist schon alles da, lediglich die Daten müssten gespeichert und
       ausgewertet werden.“ Denn ein Großteil des Internets, Fernsehens und
       Telefonnetzes basiert auf einem die Welt umspannenden Netz von
       Glasfaserkabeln. Mehr als 4 Milliarden Kilometer Kabel sollen unter und
       zwischen den Städten liegen. Auch die Weltmeere sind von Glasfaser
       durchzogen.
       
       „Zum Leidwesen der Telekommunikation ist Glasfaser in seiner Fabrikation
       nicht perfekt“, so der Geophysiker. Bei der Herstellung schleichen sich
       kleine Makel ein, winzige Defekte. Wo das Material in den Fasern
       rekristallisiert, streuen sich die hindurchgeschickten Laserimpulse, die
       eigentlich Signale übertragen sollen. Diese Rückstreuung ist messbar.
       
       Wird ein Glasfaserkabel durch ein Erdbeben gedehnt und gebogen, verschieben
       sich die kleinen Unvollkommenheiten im Material – und mit ihnen die
       gemessene Rückstreuung. Ein Gerät namens Interrogator kann diese
       Veränderungen interpretieren, um exakt zu bestimmen, wo und wie stark die
       Vibrationen die Faser belastet haben. So können die Forschenden die
       Erschütterungen rekonstruieren.
       
       Das Verfahren nennt sich ortverteilte akustische Sensorik. Das Patent
       stammt zwar schon aus den 1980er-Jahren. Die Dimensionen der Anwendungen
       werden aber erst jetzt erschlossen. Die Fachwelt in der Geophysik ist aus
       dem Häuschen. So viele Daten für wenig Geld, das verspricht grundlegende
       neue Erkenntnisse über die Welt und das, was sich unter unseren Füßen
       abspielt. Zunächst wurde mit der akustischen Messung kritische
       Infrastruktur geschützt: Die unterirdischen Glasfaserkabel in der Nähe von
       Kernkraftwerken, Militärplätzen und Pipelines halfen dabei, Unbefugte
       aufzuspüren. Mit der Jahrtausendwende testete die Öl- und Gasindustrie
       damit Wege, um Erschütterungen in ihren Bohrlöchern zu überwachen. Dann
       kamen weitere Anwendungen hinzu: Trampelnde Tierherden ließen sich damit
       verfolgen, selbst Veränderungen der Bodenfeuchtigkeit konnten erfasst
       werden.
       
       Die Messgenauigkeit der Rückstreuung liegt im Bereich von Nanometern, also
       Milliardstel von Metern, das ist die Welt von Molekülen. Die optische
       Messung im Glasfaserkabel ist damit nicht nur billiger, sondern auch um ein
       Vielfaches genauer als die physische Messung der herkömmlichen Seismometer.
       
       Kabel, die gerade aktiv Signale übertragen, kann die Seismologie leider
       noch nicht nutzen. Die unterschiedlichen Signale in der Glasfaser stören
       sich gegenseitig. Die meisten Telekommunikationsnetze enthalten aber
       ungenutzte Fasern, sodass diese für zukünftige Messungen verwendet werden
       können. Diese könnten dann die Lücken in Seismometernetzen schließen, etwa
       in seismisch aktiven Städten, die kein gutes Überwachungssystem haben. Oder
       an schwer zugänglichen Orten wie dem Meeresboden.
       
       Das Potsdamer Geoforschungszentrum hat gerade ein neues Großprojekt
       begonnen: SAFAtor zielt einerseits darauf ab, die vorhandenen
       unterseeischen Telekommunikationskabel als Messinstrumente zu nutzen.
       Seebeben, vulkanische Aktivitäten und Erdrutsche an Küstenhängen würden so
       erkannt. Außerdem sollen neue Sensoren entwickelt und installiert werden,
       die sich leicht in die Unterseekabel integrieren lassen. „Die bereits
       vorhandenen Kabel müssen in den nächsten Jahren erneuert werden“, erklärt
       die Direktorin des Department Geophysik, Charlotte Krawczyk. „Wir können
       über die Kabel nicht nur Beben messen, sondern auch etwa Druck und
       Temperatur, um mehr über die Ozeane und Meeresströmungen zu erfahren.“
       
       Die Messungen auf dem Festland laufen bereits. Unter den Straßen von
       Istanbul gibt es Glasfaser zur Genüge. Die Potsdamer Geoforschung rechnet
       in den nächsten fünf Jahren mit einem verheerenden Beben mit Magnitude
       größer 7 direkt in der Millionenmetropole. [2][Erst im April hatte ein
       Erdbeben] der Stärke 6,2 die Stadt erschüttert. Der Bosporus ist
       Erdbebenregion. 2023 verursachten zwei Beben von 7,7 und 7,6 an der
       türkisch-syrischen Grenze eine der schlimmsten Naturkatastrophen der
       letzten 100 Jahre.
       
       Noch 800 Kilometer entfernt, an der Grenze zu Syrien, waren die Beben zu
       spüren. Zufällig zeichnete ein Team um Fichtner gerade auf einer
       ungenutzten Glasfaser auf, als die Erschütterungswelle ankam. Die
       Forschenden der ETH Zürich hatten erst wenige Tage zuvor begonnen, einige
       Kilometer Kabel unter dicht besiedelten Vierteln Istanbuls zu überwachen.
       
       „Mit dieser Methode konnten wir die obersten 100 Meter des Bodens unter der
       Stadt untersuchen“, erklärt Andreas Fichtner. Mit herkömmlichen
       Beobachtungen über Satelliten ist das nicht möglich. Das Team erstellte
       eine Karte mit der Untergrundbeschaffenheit der Stadt. „Istanbul ist extrem
       heterogen“, so der Geophysiker. „Große Teile stehen auf weichem Sediment,
       andere auf Granit.“ Dadurch wirken sich Erdbeben unterschiedlich heftig auf
       die darauf stehenden Gebäude aus. Die Karte zeigte, dass bei einem Erdbeben
       einige Straßen zehnmal stärker erschüttert werden könnten als benachbarte.
       
       Das Beben von 2023 bestätigte das Modell. Die Stadtregierung von Istanbul
       kann diese Daten nun nutzen, um gezielter erdbebensicher zu bauen. Die
       vielen Daten aus dem Glasfasernetz können auch dazu beitragen, das
       Frühwarnsystem von Katastrophen zu optimieren. So verbessert die neue Sicht
       durch das Glasfasernetz auf die Unterwelt unser Verständnis der sich
       ständig bewegenden Erde – unter den gefährdeten Ballungsräumen von San
       Francisco über Istanbul bis Tokio ebenso wie unter den grollenden Vulkanen
       von Island.
       
       „Wir untersuchen aber nicht nur die großen Erdbebenereignisse“, sagt
       Charlotte Krawczyk. Auch in Deutschland soll die Technik vermehrt
       eingesetzt werden. „Bei uns nutzen wir die Technologie derzeit vor allem
       für die Forschung zur [3][Geothermie].“ Würde man die in der Erdkruste
       gespeicherte Wärme gezielter aufspüren, so würde sie als regenerativer
       Energieträger auch eine viel größere Rolle spielen. Am Adlershof Campus im
       Südosten von Berlin messen die Geophysiker deshalb passiv an einer
       Glasfaser entlang. „Das hätte ohne die vorhandenen Kabel unendlich viele
       Instrumente gebraucht“, so Krawczyk.
       
       23 Aug 2025
       
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