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       # taz.de -- „Berliner Moderne“: Erlaubte Sentimentalitäten
       
       > Der Siedlungsbau der 1920er Jahre ist wohnungspolitisch ein Vorbild für
       > die heutige Wohnungsnot. Das zeigt auch ein Blick auf die
       > Hufeisensiedlung.
       
   IMG Bild: Bis heute modern geblieben: die Hufeisensiedlung in Neukölln
       
       Berlin taz | Eines der klassischen konservativen Vorurteile gegen „die
       Moderne“ – was und wer immer sie sei – ist, dass „sie“ keinen monumentalen
       Städtebau könne, keine Emotion. Doch dann steht man vor der
       [1][Hufeisensiedlung im Süden von Neukölln, die gerade ihr 100.
       Gründungsjahr feiert].
       
       Um die weite, ovale Grünanlage, sanft abfallend zu einem nierenförmig
       geschwungenen Teich, stehen hier die Wohnhäuser im fast geschlossenen Ring.
       Außen schließen sich Reihenhauszeilen mit Satteldächern an, gegeneinander
       leicht geknickt angeordnet, zwischen ihnen ein kleiner Platz gleich eines
       Dorfangers – der „Hüsung“.
       
       Der damalige Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, der
       Genossenschaftsarchitekt Bruno Taut und der Gartenplaner Leberecht Migge,
       nach deren Plänen die ab 1925 errichtete Siedlung entstand, waren eben
       durchaus der Meinung, dass auch die Moderne sentimentale Traditionen
       weitertragen solle.
       
       Zugleich sind da aber auch diese schier endlosen, massig-langen
       Etagenwohnungshäuser an der Fritz-Reuter-Allee, die „Rote Wand“, die
       „Chinesische Mauer“ oder „Kreml-Mauer“; die Modernen wurde von
       Konservativen ja immer als sozialistisch oder kommunistisch verdächtigt.
       Also, wenn das nicht monumental ist.
       
       Es ist das wohl größte Phänomen „der Moderne“ der 1920er Jahre, dass sie
       bis heute modern blieb. Sie prägte in den wenigen Jahren zwischen dem Ende
       der Hyperinflation 1923 und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 unsere
       Perspektive auf Licht, Körperkultur, das Leben und vor allem das Wohnen
       fundamental neu: Um 1910 wäre die Vorstellung weitgehend leerer, nur
       verputzter Wohnräume absurd erschienen; heute ist sie ein Ideal, selbst
       wenn man nicht so weit geht wie die AusräumideologInnen um die japanische
       Bestsellerautorin Marie Kondo & Co.
       
       ## Ein neues Lebensideal
       
       Es waren vor allem Siedlungen, Fabrik- und Geschäftsbauten, die wirkten.
       Oft waren es Anlagen mit Tausenden von Wohnungen in Berlin und Hamburg,
       Celle, Leipzig und Dessau, Köln und Karlsruhe, dazu die im Büro des
       Frankfurter Stadtbaurats Ernst May entworfenen Siedlungen des „Neuen
       Frankfurt“. Sie alle stehen für ein neues Lebensideal: die emanzipierte
       Frau; die Industrie und die Verwaltungen als Arbeitgeber; der
       Genossenschaftswohnungsbau als Antipode zum kapitalistischen
       Grundstücksmarkt; die aufgelockerte Stadtplanung, die grüne Höfe und
       Mietergärten erlaubte.
       
       Intensiv arbeiteten ArchitektInnen und GestalterInnen über nationale
       Grenzen hinweg, debattierten auf Kongressen und in Zeitschriften, wie die
       neue Zeit aussehen soll. In Skandinavien und Finnland, Frankreich, den
       Niederlanden vor allem, Großbritannien, den USA, sogar in Japan und China
       war die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg ähnlich katastrophal wie in
       Deutschland, wurden ähnliche neue Wege gesucht. Der Kunstbegriff
       „International Style“ stand um 1930 auch für diese Zusammenarbeit.
       
       Möglich waren dieses internationale Wohnungsbauprogramm insbesondere aus
       drei Gründen: In Deutschland gelang es der Reichsregierung mit der
       Einführung der „Rentenmark“ 1923 geradezu schlagartig, die Hyperinflation
       zu stoppen. Sie schuf mit der strikt eingehaltenen Begrenzung des
       Gesamtvolumens der ausgegebenen Scheine bei 2,4 Milliarden Reichsmark jenes
       Vertrauen der Bevölkerung, ohne das keine Geldwertstabilität entstehen
       kann.
       
       Zweitens: Die meisten europäischen und nordamerikanischen Städte hatten
       erheblichen Grundbesitz im weiteren Umfeld der Innenstädte oder erhielten,
       wie Kopenhagen und Paris, staatlichen Grundbesitz billig oder gar
       kostenfrei für kommunalen Wohnungsbau.
       
       Der dritte Grund war wenigstens in Deutschland eine geradezu bahnbrechende
       Erfindung: [2][die Hauszinssteuer]. Nach dem Konzept des erwähnten
       Stadtbaurats Martin Wagner sollten auch die Grund- und Mietshausbesitzer,
       deren Hypothekenlast durch die Hyperinflation oft vollständig geteilt
       worden war, zum Wohnungsneubau beitragen. Bis 1943 wurde die Steuer
       erhoben, nach dem Zweiten Weltkrieg funktionierte das
       Lastenausgleichsgesetz auf denselben Grundsätzen.
       
       Tatsächlich waren Anlagen wie die Hufeisensiedlung ökonomisch nur
       tragfähig, weil sie auf der sprichwörtlichen Grünen Wiese entstanden. Nur
       deswegen rechneten sich die oft nur zwei- oder dreigeschossigen Bauten und
       der Platzverbrauch für Grünanlagen und für Gärten. Sobald die Grundstücke
       teurer waren – wie in Charlottenburg, der Siedlung Onkel Tom in Zehlendorf
       und vor allem der Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg –, musste
       dichter und höher, mussten mehr Wohnungen pro Grundstück gebaut werden.
       
       ## Atemberaubende Konzentration auf die Grundrisse
       
       Möglich war das ohne Qualitätsverluste nur durch eine atemberaubende
       Konzentration der PlanerInnen auf die Wohnungsgrundrisse. Sie war letztlich
       viel wichtiger als die viel debattierte Vorfertigung. Nicht mehr Platz,
       sondern die bestmögliche Ausnutzung auch der kleinsten Fläche waren ihr
       Ziel: Eine Erfindung wie die des kombinierten Besenschranks auf dem Balkon,
       der zugleich als Kühlungspuffer für den Speiseschrank in der Küche dient,
       ist einfach genial. So können Wohnungen mit Küche, Bad, Balkon und
       dreieinhalb Zimmern auf 67 Quadratmetern auch heute noch funktionieren.
       
       Hier vor allem kommt die eigentliche Stärke der „Berliner Moderne“ zum
       Tragen: Sie war ungewöhnlich vielfältig. Es herrschten nicht ein
       Stadtbaurat und eine Verwaltung wie in den meisten anderen Städten.
       Stattdessen agierten liberale, sozialistische, auch konservative Reformer
       wie Paul Mebes oder das Beamtenheimstättenwerk, und zwar miteinander.
       
       Nur einer kam kaum zum Zug im modernen Berlin: Walter Gropius, der
       Gründungsdirektor des Bauhauses. Mit dessen strengen Doktrinen, die etwa in
       der Siedlung Dessau-Törten die dort in den Küchen Arbeitenden zwang, dies
       des Blicks auf die Kinder im kleinen Garten wegen im Stehen zu tun, konnte
       in Berlin kaum jemand etwas anfangen. Es gibt charakteristischerweise auch
       keine „Berliner Küche“ [3][wie die „Frankfurter Küche“ von Grete
       Schütte-Lihotzky], die bis in den kleinsten Handgriff die
       Nahrungsmittelzubereitung effizienter gestalten wollte. Stattdessen sind
       Küchen der „Berliner Moderne“ meistens groß genug, dass wenigstens drei
       Personen auch in ihnen sitzen können.
       
       Bruno Taut wollte zwar durchaus, dass die Menschen neue Möbel kauften. Doch
       sah er ein, dass diese oft an ihrem Hausstand hingen. Also propagierte er
       in Broschüren, wie mit Dekor überladene historistische Möbel durch
       Abschleifen und Anstreichen verändert werden können. Nichts ist also
       ahistorischer als die Ausstattung eines mietbaren Hauses in der Neuköllner
       Hufeisensiedlung mit coolen „Bauhaus-Möbeln“ – genau die standen hier
       historisch nicht. Die „Berliner Moderne“ erlaubte auch, nicht modern zu
       sein.
       
       13 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Nikolaus Bernau
       
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