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       # taz.de -- Kunst aus der Sprühdose: Wie aufgeladen ein gesprühter Strich sein kann
       
       > Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion Bozen folgt den Verbindungen von
       > Sprühfarbe, Kunst und öffentlichem Raum und entdeckt unbekannte
       > Pionierinnen.
       
   IMG Bild: KAYA (Kerstin Brätsch & Debo Eilers), „Swarm Living is for Bodybag ONION BRAID“, 2015, mit N.O.Madski „Glyphtolyte“, 2025
       
       Fsschhhhhh… – so klingt der längere, gleichmäßige Strahl einer Sprühdose.
       Sprühfarbe verfügt über außergewöhnliche Eigenschaften. Das Treibgas
       zerstäubt den Lack zu einem feinen Nebel, der eine glatte, nahezu
       streifenfreie Oberfläche erzeugt – und das bei hoher Deckkraft. Die Farbe
       haftet auf nahezu allen Materialien.
       
       Bereits in den 1920er Jahren setzte General Motors serienmäßig die
       Spritzlackierung ein, die mit einer Druckluftpistole aufgetragen wurde. Die
       Farbe trocknete in weniger als zwei Stunden auf den Karosserien, was einen
       enormen Produktivitätsschub gegenüber den deutlich langsamer trocknenden
       Öllacken brachte. Diese industrielle Innovation wurde zu einem wichtigen
       Medium auch für Künstler:innen. Die Ausstellung „Graffiti“ im Museion in
       Bozen betrachtet die Aneignung der Sprühfarbe aus der Perspektive der
       bildenden Kunst.
       
       Hedda Sterne ist eine Pionierin unter den 60 Künstler:innen der Schau.
       Ihr 1955 entstandenes, titelloses Leinwandbild zeigt ein Geflecht aus
       geometrischen und organischen Linien in Rot-, Grün- und Schwarztönen – eine
       Vedute von New York, in der Brücken und Gerüste das urbane Gefüge formen.
       
       Noch bevor die Stadt selbst zur kolossalen Leinwand für
       Graffitikünstler:innen wurde, porträtierte Sterne sie in Sprühfarben
       und erweiterte so das gestisch-emotionale Vokabular des Abstrakten
       Expressionismus um eine Technik ohne Pinsel, ohne direkte Berührung der
       Leinwand.
       
       Auch Charlotte Posenenske verwendete Sprühfarbe. Und sie nahm damit den
       subjektiven Gestus in der Malerei konsequent zurück. Ihre in Bozen zu
       sehende, titellose Papierarbeit aus den Jahren 1965 und 1966 entstand
       mithilfe einer Sprühpistole, blaue und rote Streifen setzte Posenenske
       damit auf weißem Grund. Die weichen Farbverläufe, durchzogen von feinem
       Sprühnebel, erzeugen an den Überlappungen violette Töne und eine körnige
       Oberfläche.
       
       ## Der Charakter industrieller Produkte
       
       Damit formulierte Posenenske bereits ihr Anliegen, variable, einfache und
       reproduzierbare Kunstwerke zu schaffen, die den objektiven Charakter
       industrieller Produkte besitzen, wie es [1][bei ihren bekannten
       Vierkantrohren] besonders deutlich wird. Ihre unpersönliche Kunst ist ein
       Gegenentwurf zu Individualismus und Geniekult, 1968 sollte Posenenske den
       Kunstbetrieb verlassen und sich fortan einem Soziologiestudium und sozialen
       Projekten widmen.
       
       Nicht weit von Posenenskes gesprühten Streifen wird in der Ausstellung eine
       völlig gegensätzliche Bildlogik sichtbar. Denn hier tritt der
       Künstler:innenname in monumentalen Buchstaben hervor, die aussehen wie
       der genietete Stahl einer Eisenbahnbrücke: Blade. Ab Mitte der 1970er Jahre
       hatte der Graffitikünstler in New York City Züge mit diesem Alias
       großformatig besprüht. Mit seiner ausgestellten Arbeit „Infinitive
       Paradise“ von 1984 übertrug Blade die Ästhetik der Straße auf die Leinwand
       – und in die weißen Säle der Galerie.
       
       Denn während in den 1980ern die Metropolitan Transportation Authority
       Graffiti aus dem Stadtraum entfernte, fanden sie nunmehr Eingang in den
       Kunstbetrieb. Mit Blades Ego-Lettern beginnt auch in der Bozener
       Ausstellung der Abschnitt „Painting Graffiti“ mit Leinwandarbeiten von
       zentralen [2][Protagonist:innen der New Yorker Graffiti-Szene]. Daze,
       Futura 2000, Quik, Lee Quiñones, Rammellzee, Seen, Dondi White und Zephyr
       sind hier versammelt. Und die New Yorker [3][Kultfigur Keith Haring].
       
       ## Christenkreuze als Waffe
       
       Harings wandfüllendes Bild sieht mit seinen knalligen Farben auf gelbem
       Grund nur auf dem ersten Blick heiter aus: Harings charakteristische
       Umrissmännchen werden darauf von Christenkreuzen aufgespießt oder hauen mit
       Schlagstöcken bemannt auf einen riesigen Picasso-artigen Stier ein.
       
       Einmal in der Galerie ausgestellt, wandelte sich die Kunst der Graffiti.
       Schließlich musste sie hier nicht mehr in den Wettstreit um die wenigen
       Flächen auf der Straße treten, aus Sicherheitsgründen in Eile und anonym
       angefertigt werden oder die Dimensionen der gesprühten Bilder an den
       Flächen der Züge orientieren. Das sieht man in dieser Ausstellung.
       
       Man sieht aber auch – und das ist die interessante These dieser Schau – wie
       eine in die Galerien eingekehrte Graffitikunst in den 1980er Jahren die
       bildende Kunst veränderte – von Malerei über Skulptur bis hin zur
       Performance. Die Sprühfarbe, die zunächst ab den 1950ern die malerische
       Geste entpersönlichen sollte, erhielt nunmehr durch das Graffito eine
       widerständige, subversive Konnotation und machte zuweilen auch etwas
       Gesellschaftliches sichtbar, das sich sonst im öffentlichen Raum austrägt.
       
       Heike-Karin Föll etwa sprüht eine einfache schwarze Linie auf weißem Grund
       und fragt dabei, wie genderspezifisch schon solch ein minimaler Tag
       aufgeladen sein kann. Und Maggie Lee überlegt mit einer simpel gesprayten
       Linie auf der Treppenbrüstung, was die sozialen Grenzen zwischen Hoch- und
       Subkultur sein können. Die Ausstellung gibt Einblick in eine komplexe und
       bisweilen kaum erschlossene Kunstgeschichte der Sprühfarbe und zeigt, wie
       eng sie mit einer städtischen Bildpraxis verwoben ist.
       
       13 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Gürsoy Doğtaş
       
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