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       # taz.de -- Architekturdenkmal in Tunis: Als Brutalismus den Aufbruch verkündete
       
       > Das Hôtel du Lac ist ein rebellischer Gegenentwurf aus der Vergangenheit.
       > Über Pläne für den Abriss von Tunesiens berühmtester Bauruine gibt es
       > Streit.
       
   IMG Bild: Paradebeispiel für den Brutalismus genannten Baustil: das Anfang der 1970er Jahre gebaute Hotel du Lac
       
       Ein Gerücht hat Tunesiens Hauptstadt Tunis aus dem politischen Halbschlaf
       geholt. Am vergangenen Wochenende war eines der eigentümlichsten Gebäude
       der Stadt, das Hôtel du Lac, eingezäunt worden. Der wie eine umgekehrte
       Pyramide gebaute Betonklotz im Zentrum der Stadt steht seit 20 Jahren leer,
       ist aber weiterhin ein Magnet für Touristen und Architekturfans aus aller
       Welt. Nun ist wieder einmal geplant, ihn abzureißen.
       
       Das Anfang der 1970er Jahre von dem italienischen Architekten Raffaele
       Contigiani gebaute Hotel mit 10 Stockwerken und 416 Zimmern ist [1][ein
       Paradebeispiel für den Brutalismus genannten Baustil] und symbolisiert wie
       kaum ein zweites Gebäude in Nordafrika die Aufbruchstimmung nach der
       Unabhängigkeit.
       
       In Stadtvierteln wie Lafayette und rund um die Prachtstraße Avenue du
       Bourguiba lebten zu kolonialen Zeiten fast nur Europäer. Noch heute
       dominieren prunkvoll verzierte Häuser aus der Gründerzeit die Straßen, die
       oft eher an Marseille erinnern als an eine Hauptstadt in der arabischen
       Welt.
       
       ## Modernisierung der Gesellschaft
       
       Ähnlich wie in Osteuropa wollten nordafrikanische Machthaber wie Habib
       Bourguiba die von ihnen propagierte Modernisierung der Gesellschaft auch
       architektonisch darstellen. Das Hôtel du Lac galt bei der Eröffnung als
       Beweis für die Fortschrittlichkeit des Landes, Brutalismus war vor allem in
       sozialistischen Ländern gefragt.
       
       Der rohe Beton, die scheinbar schwebenden Gebäudeüberhänge in den oberen
       Etagen sind noch heute aufsehenerregend. Die Eröffnung im März 1973 wurde
       pompös gefeiert, Auftritte von Soul-Star James Brown und anderen
       Prominenten machten Tunis zu einem Hotspot der Musik-und Kulturszene.
       
       Doch der Ruhm verblasste, als Bourguibas Modernisierung die Luft ausging.
       Der Polizeistaat unter seinem Nachfolger Ben Ali hielt Kreative fern. Im
       Jahr 2000 ging der seit 1990 von einer privaten Firma betriebene
       Staatsbetrieb pleite. Der libysche Staatsfonds Lafico übernahm und will auf
       dem Grundstück eines der gesichtslosen Hotel- und Business-Center
       hochziehen, wie es die Scheichs aus Katar und Saudi-Arabien in den
       Neubauvierteln Lac 1 und 2 machten. Dort hatte man auf unbewohnten
       ehemaligen Müllkippen gebaut.
       
       ## Kampf um die Bewahrung der Geschichte
       
       Jedes Mal, wenn Abrisspläne für das Hôtel du Lac konkret wurden, retteten
       Demonstranten die als nationales Kulturerbe empfundene Betonpyramide. Nur
       um deren Renovierung kümmerte sich niemand.
       
       Für den Architekten und Aktivisten Mohamed Zitouni ist das ein Skandal. Ihm
       geht es nicht nur um den Erhalt des Hotels, sondern um den Umgang mit der
       komplizierten Geschichte der Region im Allgemeinen. „Der Brutalismus war
       ein rebellischer Gegenentwurf zu der damals als kolonial empfundenen
       Architektur der Innenstadt“, sagt er.
       
       ## Abrisspläne in der Hauptferienzeit
       
       Die jungen Paare, die am letzten Wochenende um den Bauzaun schlenderten,
       hinter dem das Hotel nun steht, wissen nichts über diese bewegte
       Vergangenheit. Sie sehen nur eine mit Graffiti besprühte Bauruine mit
       kaputten Fenstern.
       
       Die meisten Tunesier [2][verbringen den August am Strand], das
       gesellschaftliche Leben pausiert. Ein guter Moment, um den immer wieder auf
       Eis gelegten Abrissplan endgültig durchzuziehen, dachten sich wohl die
       libyschen Investoren. Doch gerade das heimliche Vorgehen könnte ein
       strategischer Fehler gewesen sein. Noch ist nicht einmal ein konkreter
       Abrissplan bekannt, schon aber sind für die kommenden Tage Mahnwachen und
       Demonstrationen geplant. Eine Protestbewegung derjenigen, die den Zeiten
       des Aufbruchs nachtrauern.
       
       Architekten wie Sami Aloulou wollen die boomende junge Start-up-Branche im
       Hôtel du Lac unterbringen, sie wollen die Besitzer zur Renovierung des Baus
       zwingen. Es scheint, als habe die graue Brutalismus-Betonruine dem
       tunesischen Widerstandsgeist wieder Leben eingehaucht.
       
       23 Aug 2025
       
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