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       # taz.de -- Grünen-Chef Felix Banaszak: „Ich nenne es radikale Ehrlichkeit“
       
       > Die Grünen wollen wieder zur führenden Partei der linken Mitte werden.
       > Felix Banaszak über Empathie, Feigheit und populistischen Unsinn.
       
   IMG Bild: Kategorien wie „links“ und „Mitte“ reichen nicht zur Betrachtung der Welt, findet Felix Banaszak
       
       taz: Herr Banaszak, die Bundestagswahl ist ein halbes Jahr her. Seitdem
       stehen Sie bei den Grünen in der ersten Reihe. Wie anstrengend waren die
       letzten Monate? 
       
       Felix Banaszak: Sie waren schon aufreibend. Eine Partei, die bei der Wahl
       deutlich hinter ihren Erwartungen bleibt, analysiert ja nicht nur sachlich.
       Sie muss emotional wieder aufgebaut werden – zum Beispiel dort, wo
       Abgeordnete aus dem Parlament geflogen sind. Aber bei dieser
       Rückschrittsregierung ist klar, wofür wir das tun – das motiviert den Laden
       enorm.
       
       taz: Wer die Grünen nach der Ära Habeck/Baerbock sein wollen, ist aber
       weiter offen. Eine neue Strategie gibt es noch nicht. Höchstens einzelne,
       teils auch widersprüchliche Vorschläge. 
       
       Banaszak: Das teile ich nicht. Zwischen Partei- und Fraktionsspitze sind
       wir uns über die Richtung sehr einig: Wir geben der Partei ein schärferes
       Profil, vertreten unsere Werte wieder offensiver, machen die Grünen wieder
       grüner. Es braucht in dieser Zeit eine politische Kraft, die die Dinge
       offen benennt und nichts beschönigt – [1][die ökologischen Krisen, das
       Erstarken des Rechtsextremismus, den Zusammenbruch der Weltordnung.] Ich
       nenne es radikale Ehrlichkeit, und wenn man mit der nicht abstoßen will,
       braucht es dazu ein Zweites: Empathie.
       
       taz: Wie geht das zusammen? 
       
       Banaszak: Auf meiner Sommerreise war ich in den ostdeutschen Bundesländern.
       Ich habe bewusst Orte besucht, wo der Applaus nicht auf uns wartet, wo die
       Luft brennt. An manchen davon sind Leute und Initiativen damit
       beschäftigt klarzukommen, weil sie beispielsweise das letzte
       soziokulturelle Zentrum in der Region leiten und befürchten, dass ihnen aus
       politischen Gründen die Gelder gestrichen werden. Immer wieder ist mir die
       Erwartung begegnet, dass die Grünen einen Gegenentwurf zur allgemeinen
       Rechtsverschiebung bieten. Das ist auch mein Anspruch. Bei der
       Bundestagswahl haben das viele nicht mehr wahrgenommen.
       
       taz: Und die anderen Orte? 
       
       Banaszak: Dort bleibt der Applaus aus, weil es Vorbehalte gegen grüne
       Politik gibt. Etwa unter Chemiearbeitern in Leuna, die sich fragen, ob sie
       demnächst noch Arbeit haben. Dort ist der Wandel eine historische Erfahrung
       – und zwar keine gute. „Transformation“ ist hier eher das Synonym für
       Verlust: von Arbeit, Anker oder Identität. Wer Menschen für Veränderungen
       gewinnen will, muss solche Lebensrealitäten ernst nehmen. Und wer in dieser
       Zeit der Polarisierung zwischen Demokraten und Antidemokraten die
       Unentschlossenen nicht verlieren will, muss sich sowieso um Verständnis
       bemühen. Klarheit und Offenheit gehören zusammen.
       
       taz: Die Chemiearbeiter werden Sie aber nicht mit der Ankündigung gewonnen
       haben, wieder ein grüneres Profil zu zeigen? 
       
       Banaszak: Die Leute sagen: Wenn Europa einen CO2-Preis erhebt und andere
       nicht, haben wir einen Wettbewerbsnachteil. Die Sorge nehme ich ernst und
       sage trotzdem nicht: Dann lassen wir es halt. Stattdessen haben wir darüber
       gesprochen, wie man dem Problem mit einem anderen Handelsschutz begegnen
       kann. Vermutlich wählen sie uns auch nach dem Gespräch nicht. Aber wir
       haben respektvoll und auf Augenhöhe unsere Perspektiven ausgetauscht.
       Polarisierung vermeiden heißt nicht, keine Position zu haben.
       
       taz: Gesprächsfähigkeit ist das eine. Als Partei wollen Sie aber
       Wähler*innen zurückgewinnen. Zielen Sie auf die 700.000, die Sie bei der
       Bundestagswahl an die Linke verloren haben – oder die 460.000, die zur
       Union gegangen sind? 
       
       Banaszak: Die Kategorien sind falsch. Die Union entfernt sich zu immer
       größeren Teilen von dem, was man „Mitte“ nennen kann. Im Osten ist
       Kooperation mit der AfD an der Tagesordnung, [2][Julia Klöckner kann ein
       rechtsextremes Hetzportal nicht von diesem Qualitätsblatt linker
       Bürgerlichkeit unterscheiden]. Die Frage ist doch: Wer formuliert den
       glaubwürdigen Gegenentwurf zu dieser Enthemmung? Mein Ziel ist, die Grünen
       zur führenden Kraft der linken Mitte zu machen – und das progressive
       Spektrum insgesamt wieder wachsen zu lassen.
       
       taz: Manche in Ihrem Parteiflügel sagen, in der Mitte sei für die Grünen
       nichts mehr zu holen. Dort seien alle mit der Union nach rechts gerückt. 
       
       Banaszak: Im Bundestagswahlkampf war das so. Es wäre aber ambitionslos,
       sich damit abzufinden. Es ist eine Frage der Reihenfolge: Ich muss erst das
       Fundament festigen – Menschen zurückholen, die uns nahestehen, aber
       enttäuscht sind – und dann in die Höhe bauen. Es reicht nicht, wenn unsere
       Politik bei Fridays for Future, Nabu oder Pro Asyl Anklang findet. Aber
       wenn es nicht mal da klappt, erreichen wir auch keine breiteren Mehrheiten.
       
       taz: Auch wenn Sie solche Schlagworte nicht mögen: Sie wollen linker werden
       und in der Mitte punkten? 
       
       Banaszak: Sie haben recht, ich mag diese Schlagworte nicht.
       
       taz: Weil andere in der Partei Schnappatmung bekommen, wenn Sie „links“
       sagen? 
       
       Banaszak: Diese Kategorien reichen einfach nicht zur Betrachtung der Welt.
       Ein Beispiel: Ich kenne Menschen in Berlin-Moabit, die Grüne oder Linke
       wählen, aber ihr Kind nicht an der Grundschule um die Ecke anmelden wollen.
       Dort wird nämlich ein schwuler Lehrer von Schülern gemobbt, die sagen:
       „Hier ist der Islam Chef.“ Mit so etwas müssen sich progressive Kräfte
       auseinandersetzen. Es muss möglich sein, angstfrei und offen schwul zu
       leben, ohne von Rechtsextremen oder Islamisten bedroht zu werden. Ist es
       nicht mehr links, wenn ich das ausspreche? Oder mache ich damit erst mal
       die Realität zur Ausgangslage? Man kann in den Kategorien „links“ und
       „Mitte“ denken oder in den Kategorien „Ehrlichkeit“ und „Feigheit“.
       
       taz: Will man wegen solcher Fälle „irreguläre Migration“ stoppen, wie auch
       einige Grüne, ist das sehr wohl mittig bis rechts. Die linke Antwort könnte
       sein: Wir beschäftigen uns mit autoritären und islamistischen Strukturen. 
       
       Banaszak: Das wäre auch meine. In Duisburg haben wir ein großartiges
       Präventionsprogramm, das mit jungen Muslimen an deren Vorstellung von Ehre
       und Männlichkeit arbeitet. Davon braucht es mehr. Aber damit ich zu
       rationalen Lösungen in der Migrationsdebatte komme, muss ich auch benennen,
       dass es Herausforderungen gibt. Und ja, mit Migration und Vielfalt gehen
       neue Konflikte einher. Einwanderungsgesellschaft heißt Arbeit, aber die
       lohnt sich.
       
       taz: Sie würden sagen, Ihre Partei ignoriert das? 
       
       Banaszak: Einigen fällt es schwer, es auszusprechen. Aus Sorge, dass das
       den Diskurs nach rechts verschiebt und falsche Konsequenzen gezogen werden.
       Das passiert leider auch schnell. Aber wenn progressive Kräfte keine
       überzeugenden Antworten geben, füllen andere das Vakuum. Und so zwingt
       Deutschland jetzt wieder Frauen und Kinder auf Schleuserboote, weil Union
       und SPD glauben, den Familiennachzug einschränken zu müssen. Das ist
       populistischer Unsinn.
       
       taz: In der Ampel haben die Grünen viele Asylrechtsverschärfungen
       mitgetragen, aber jedes Mal mühsame Debatten geführt. Winfried Kretschmann
       nennt als zentrales Problem der Bundespartei, dass in der
       Migrationspolitik eine klare Linie fehle. Da hat er wohl recht? 
       
       Banaszak: Ja. Nur denken die meisten, die eine Unklarheit bemängeln, dass
       genau ihre Position von allen geteilt werden müsse.
       
       taz: Und wie wollen Sie Klarheit schaffen? Durch eine Abstimmung auf dem
       Parteitag im Herbst? 
       
       Banaszak: Nein, wir hatten schon genug Parteitagsbeschlüsse, die das Thema
       am Ende doch nicht geklärt haben. Die verschiedenen Akteure in der Debatte
       müssen häufiger und strukturiert miteinander sprechen und eine Linie
       finden, mit der die große Mehrheit mitgehen kann. Das sehe ich auch als
       meine Verantwortung. Der nächste Parteitag wird zur Abwechslung mal einen
       anderen Schwerpunkt haben – sozial gerechten Klimaschutz, die zentrale
       Aufgabe unserer Zeit.
       
       taz: Auch da gibt es genug zu diskutieren. Sie fordern, dass die Reichen
       für den Klimaschutz zahlen. Cem Özdemir warnt: „Weg von
       Umverteilungsdebatten.“ 
       
       Banaszak: Der Konsens ist größer, als man denkt. Die Leute wissen, dass
       Klimaschutz viel kostet. Und wenn man Menschen nicht ehrlich sagt, an wen
       die Rechnung geht, denken sie, dass sie die Zeche zahlen sollen. Deswegen
       wäre es an der Zeit, den Menschen ab nächstem Jahr mit einem Klimabonus –
       oder nennen Sie’s Klimageld – das Geld zurückzuzahlen, das durch den
       CO2-Preis reinkommt. Das hatte vor der Wahl auch die Union versprochen.
       
       taz: Sie haben auch einen Klimasoli für Reiche vorgeschlagen. Konsens ist
       das bei den Grünen nicht. 
       
       Banaszak: Ich freue mich über jeden Gegenvorschlag, wie man in der Breite
       der Bevölkerung neue Akzeptanz für ambitionierte ökologische Politik
       schafft. Bisher habe ich keinen gehört.
       
       taz: Solange es abstrakt bleibt, ist in Umfragen die Mehrheit dafür, die
       Reichen stärker in die Verantwortung zu nehmen. 
       
       Banaszak: [3][Bis zu 80 Prozent sind der Auffassung, dass die Ungleichheit
       bei Vermögen und Einkommen zu groß geworden ist.] Das Bemühen um mehr
       Gleichheit und Gerechtigkeit ist ein Anliegen der Mitte. Und wir sind eine
       Partei der linken Mitte, nicht der linken Hälfte des Golfplatzes.
       
       taz: Sobald es konkret wird, verfangen aber stets die Gegenkampagnen der
       Lobbygruppen. Diese Erfahrung haben auch die Grünen mehrfach gemacht. 
       
       Banaszak: Was ist die größere Gefahr? Dass uns das wieder passiert? Oder
       dass der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren geht, weil die Wahrnehmung
       von Ungerechtigkeit den Menschen auch noch das Restvertrauen in Politik und
       Staat nimmt? Mit Mutlosigkeit gewinnt man jedenfalls niemanden.
       
       taz: Fehlte es den Grünen bisher am Können oder nicht doch eher am Wollen? 
       
       Banaszak: Wir haben uns in den letzten Jahren aus guten Gründen um breite
       Bündnisse bemüht, auch und gerade mit der Wirtschaft. Aber Teile der
       Industrie sind bereit und in der Lage, hart gegen jede Veränderung
       vorzugehen. Natürlich haben Gasversorger kein Interesse daran, dass in
       Zukunft mit Wärmepumpen statt mit Gas geheizt wird – weil sie Gas
       verkaufen. Die Kampagne gegen das Gebäudeenergiegesetz war ein
       Paradebeispiel für erfolgreichen fossilen Lobbyismus. Dagegen müssen wir
       standhafter werden.
       
       taz: Wie ehrlich waren Sie in diesem Gespräch denn wirklich? Nichts
       beschönigt, nie ausgewichen? 
       
       Banaszak: Nein. Aber wissen Sie, warum in der politischen Kommunikation
       viele vor Ehrlichkeit zurückschrecken? Man hat im Hinterkopf, wie Aussagen
       verdreht und aus dem Kontext gerissen werden. Diese Angst lähmt und
       vergrößert die Entfremdung zwischen politischem Betrieb und Bevölkerung.
       Ich habe mir vorgenommen, das nicht zu verstärken. Lieber nehme ich auch
       mal Widerspruch in Kauf.
       
       22 Aug 2025
       
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