URI: 
       # taz.de -- Kunstfest Weimar setzt auf Vielfalt: Der Disput mit der Mutter zehrt Kraft
       
       > Beim Kunstfest Weimar trifft Goethes Faust auf Elon Musk. Berührender war
       > ein Stück über den Mut, in Russland heute Aufklärungsarbeit zu leisten.
       
   IMG Bild: Die (russische) Perspektive aus „Das Land, das ich liebe“ wird im Exiltheater dieser Tage selten beleuchtet
       
       Frau Holle entdeckt es als erste: Der Kloß, der die Veranstaltung auf dem
       Theaterplatz moderiert, sieht ein bisschen blass aus. Und ja, sagt das von
       einer Schauspielerin verkörperte inoffizielle Thüringer Wahrzeichen: Der
       Blick in die kulturell ruhmreiche und politisch schmachvolle Vergangenheit
       sei ja schön und gut. Als auch schon recht alte Symbolfigur wünsche er sich
       aber ein bisschen mehr Zukunft.
       
       Zwei Tage zuvor appellierte am gleichen Ort die erste jüdische
       Bundesministerin Karin Prien (Ressort Bildung), die Auseinandersetzung mit
       der Vergangenheit nicht zu vernachlässigen. Beim [1][Kunstfest Weimar,] der
       siebten und letzten Ausgabe unter der Leitung von Rolf C. Hemke, gibt es
       beides: Geschichtsbewusstsein und Visionen für das, was das Festivalmotto
       „Mutig leben“ nennt.
       
       In weit über 100 Veranstaltungen sind nicht nur alle Kunstsparten
       vertreten, sondern es ist auch für jeden etwas geboten: Ein Vortrag über
       die unterschätzte Krankheit CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom) steht neben
       der Mitsingveranstaltung „Thüringen Tralala“, eine mild-verstörende
       Kurz-VR-Performance aus Taiwan neben einem Buchenwald-Gedächtnis-Konzert.
       Und vieles davon holt bei freiem Eintritt die Leute direkt auf der Straße
       ab.
       
       Die subtilste Message für das Bundesland, in dem zuletzt fast 39 Prozent
       der Menschen AfD wählten, sendet das Festivalprogramm selbst: Die Mischung
       macht’s! Viele Nationalitäten und Haltungen haben hier nebeneinander Platz.
       Kurz bevor der libanesische Tänzer und Choreograf Omar Rajeh das Kunstfest
       mit einer überaus freundlichen, umarmenden Tanz-Performance offiziell
       eröffnete, hat die aus [2][Jerusalem stammende Künstlerin Sigalit Landau]
       den Turm des von NS-Zwangsarbeitern errichteten Gauforums in einen
       Erinnerungsort an die Befreiung verwandelt.
       
       Wie nahe einem geografisch weit entfernte Ereignisse inzwischen nicht nur
       durch die Nachrichten kommen, zeigt auf seine Weise auch die Uraufführung
       von „FaustX“, die der südafrikanische Regisseur Brett Bailey mit seiner
       Truppe „First World Bunfight“, einer Dramaturgin namens ChatGPT und einem
       rant auf den weltweit wohl bekanntesten Südafrikaner angerührt hat. Der die
       Plattform X kontrollierende spielsüchtige Multimilliardär, ehemalige
       verlängerte Arm von Trump und Planet-B-Siedler in spe Elon Musk ist hier
       Faust.
       
       ## Geopolitisches Stationendrama
       
       Was passt und auch wieder nicht. Denn in „der Tragödie zweitem Teil“ hat
       Goethe den „Habe nun, ach!“ Philosophie-, Juristerei- und mehr Studierten
       zwar vollends dem Größenwahn anheimfallen lassen. Aber eine
       Grund-Gewissenspein bleibt dem Faust doch immer. In Baileys fiebrigem
       geopolitischen Stationendrama ist sie abgeschafft. Ebenso wie die Hoffnung
       darauf, dass sich inhaltliche Fäden spinnen lassen könnten zwischen den von
       acht Performer*innen mit afrikanisch und futurisch anmutenden Masken
       gespielten Szenen und der hektischen Sound- und Video-Collage.
       
       Murnaus „Faust“-Stummfilm, zerstörte Städte, Drohnen über der Ukraine,
       Bomben über Gaza und wogendes Gras sind zu sehen. Einblendungen wie „MMS
       wurde versendet“ oder „Die neue Riviera“ weisen die Bilder als
       Social-Media-Content aus. Mit einer Kreissäge stapfen gleich mehrere
       Musk-Fausts und ihre mephistofelischen Dealmaker-Kumpels durch die globalen
       Krisengebiete und zetteln weitere Kriege und Umsiedlungen an.
       
       Auf seinem goldenen Macbook spielt Faust die betörende Musik des Geldes.
       Auf dem Video regnet es gezeichnete Bitcoins, und in eckigen Gedankenblasen
       von vier afrikanischen Herrschern ploppen klassische Sehnsüchte auf: teure
       Uhren, Häuser, Autos. Der kapitalistische Kolonisator bekommt im Gegenzug
       ein Löwen-Szepter überreicht.
       
       Inhaltlich subtil ist das nicht, aber auch nicht so radikal wie der
       exotische „Menschenzoo“ im Stück „Exhibit B“, mit dem Bailey in Deutschland
       bekannt wurde. Aber die zwischen Star-Wars-Universum, Stammesritualen,
       griechischem Maskentheater und KI generierten Videos mäandernde Bilderflut
       ist so imposant wie die dahintersteckende Wut. Bloß kann man sich immer nur
       entweder auf die Bilder oder auf die auf Übertitel, Sprechblasen und
       Transparente verteilten Texte der mehrsprachigen Aufführung konzentrieren.
       Also entweder wahrnehmen oder verstehen. Beides gleichzeitig geht leider
       nicht. Entsprechend ist der Albtraum vom technokratisch induzierten
       Weltenbrand auch schnell wieder abgeschüttelt.
       
       Fast konträr dazu geht die zweite Uraufführung auf dem Kunstfest vor. „Das
       Land, das ich liebe“ ist eine szenische Installation nach einem Buch von
       [3][Jelena Kostjutschenko]. In ihm schreibt die im deutschen Exil lebende
       ehemalige Investigativjournalistin über ihre allmähliche Sensibilisierung
       für die Strategien der russischen Staatspropaganda und ihr Leben als
       lesbische Frau in einer queer- und frauenfeindlichen Gesellschaft. Zwischen
       ihren Reportagen für die inzwischen von Putin verbotene Nowaja Gaseta
       führte Kostjutschenko offenbar müßige Diskussionen mit ihrer Mutter, die
       der Meinung ist, die weißen Felsen der Krim hätten schon immer zu Russland
       gehört und alle Ukrainer seien Faschisten.
       
       ## Erstarrt in Putin-Treue
       
       Gleich sechs Video-Konterfeis dieser Putin-treuen Frau sind auf dem
       Höhepunkt dieses fruchtlosen Disputs auf den hohen Wänden der Weimarer
       KET-Halle zu sehen. Der schroffen Schönheit der Industriearchitetektur
       begegnen Anna Narinskaya (Konzept) und Polina Solotowizki (Regie) mit
       ästhetischer Zurückhaltung. Zehn Menschen sitzen an zirpenden
       Technik-Pulten auf der nahezu leeren Bühne, markieren mit
       Schreibmaschinenklappern den Redaktionsalltag oder swingen am Platz mit der
       rhythmisch pulsierenden Musik.
       
       Einer der drei deutschen Schauspieler*innen verkörpert in einer
       besonders bedrückenden Szene ganz allein ein männerdominiertes System aus
       Angst, Erpressung und Zudringlichkeit und muss dafür noch nicht einmal
       seinen rollenden Bürostuhl verlassen. Das gelingt aber nur, weil die
       russische Performerin Evgenia Borzykh sein Gegenüber ist. Sie besetzt das
       Zentrum des Abends und kann all das spielen: was es bedeutet, mutig zu
       leben, wenn dieser Mut einen das Leben kosten kann. Und was es bedeuteten
       würde, aufzugeben: den Mut und damit auch das Land, das sie trotz allem
       liebt. Eine (russische) Perspektive, die im Exiltheater dieser Tage selten
       beleuchtet wird.
       
       Im Taiwan-Schwerpunkt steht dann wieder ein bedrohtes, kaum irgendwo als
       unabhängig von China anerkanntes Land im Fokus. Im Bauhaus-Museum ist Ivan
       Lius Installation „Echoes of the Land“ zu sehen, die die Empfindlichkeit
       des komplexen seismischen Systems der Erde für die Eingriffe des Menschen
       erfahrbar macht und die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Kunst
       überbrückt. Der „Focasa Circus“ aus Taipeh dagegen malt mit den Mitteln des
       Tanzes und der Akrobatik ein melancholisches Porträt einer Gruppe von
       Freunden für alle Generationen. Die Tradition des Nouveau Cirque ist in
       Taiwan noch jung und das deutsch-taiwanesische Choreograf*innen-Duo
       „Peculiar Man“ ist vom Tanztheater Pina Bauschs geprägt. So wartet die
       fünfköpfige Zirkus-Boygroup nicht mit halsbrecherischen Hochglanznummern
       auf, sondern zeigt sich langsam entwickelnde Situationen mit Vorgeschichte,
       die von Einsamkeit und Zugehörigkeit handeln. Handstand-Artistik und
       Jonglage, Cyr-, Kampf- und andere Nummern passieren hier fast nebenbei und
       haben sich den Charme von Kinderspielen bewahrt. Schön!
       
       26 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kunstfest-Weimar/!6030810
   DIR [2] /Sigalit-Landau-Austellung-in-Berlin/!5190530
   DIR [3] /Verdacht-auf-Journalisten-Vergiftungen/!5950316
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
       ## TAGS
       
   DIR Weimar
   DIR Festival
   DIR Theater
   DIR Faust
   DIR Elon Musk
   DIR Russland Heute
   DIR Reden wir darüber
   DIR Theater
   DIR Ruhrtriennale
   DIR Theater
   DIR wochentaz
   DIR Maxim Gorki Theater
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wallenstein und die Kriege heute: Putins Koch bittet zu Tisch
       
       Jan-Christoph Gockels siebenstündiges „Schlachtfest“ rund um Schillers
       „Wallenstein“ kommt in den Kammerspielen München ganz in der Gegenwart an.
       
   DIR Ruhrtriennale in Duisburg: Tanz den Algorithmus
       
       Mulitmediale Expedition in die Technikgeschichte: Der Regisseur Łukasz
       Twarkowski fusioniert in „Oracle“ Mensch und Technik zu opulenten Bildern.
       
   DIR Theaterfestival in Estland: Hackerperformance an der EU-Außengrenze
       
       Das Freedom-Festival im estnischen Narva verblüfft. Dort gab es originelles
       politisches Theater und Trotz gegen den östlichen Nachbarn Russland.
       
   DIR Tamara Dudas Roman „Donezk Girl“: Die Farben sind plötzlich andere
       
       Die ukrainische Autorin Tamara Duda hat einen Roman über die Russifizierung
       des Donbass ab 2014 geschrieben. Sie selbst half als Freiwillige der Armee.
       
   DIR Roman von Jorge Semprún als Theaterstück: „Ich musste wählen, ein anderer zu sein“
       
       Das Berliner Maxim Gorki Theater zeigt „Schreiben oder Leben“. Jorge
       Semprún verarbeitete in dem Roman Erinnerungen an seine Zeit im KZ
       Buchenwald.