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       # taz.de -- Ausstellung „Vulture“ in Berlin: Kunst wie perfekte Kadaver
       
       > Antwort auf dringliche Fragen der Gegenwart: Der Berliner Projektraum
       > Scherben zeigt Werke von Sigmar Polke, Dylan Spasky und Mickael Marman.
       
   IMG Bild: Ausstellungsansicht „Vulture“, im Hintergrund zu sehen ist Dylan Spaskys Bambi-Skulptur: „Deer“, 2025, Polsterschaumstoff, Klebstoff
       
       Berlin taz | Es musste ja so kommen. Ausgerechnet in einer Nische,
       versteckt zwischen Mülltonnen in einer modrigen Passage auf der Leipziger
       Straße, musste mir begegnen, was ich in Berlins überkuratiertem und von
       seiner behaupteten Wirkmacht betrunkenen Ausstellungsbetrieb nur noch
       selten finde: wirkliche, echte Gegenwartskunst. Das heißt, Kunst, die einen
       Riss ins Zeit-Raum-Kontinuum zieht und damit totale Gegenwart schafft – ein
       greller Blitz, zack, boing, zisch, und schon ist es da, das Neue.
       
       Und jetzt kommt’s, der Laden auf der Leipziger, in dem die Kunst so kickt,
       dass es Zeit und Raum zerlegt, wo der Blitz quasi eingeschlagen hat, heißt
       passend wie einfach: Scherben. In dieser Nische, die den Namen
       [1][Scherben] trägt, stand ich also und fragte mich, was ich mich bei jeder
       wirklich echten Gegenwartskunst fragen muss: Was ist Gegenwart eigentlich?
       Eine Antwort darauf habe ich immer noch nicht gefunden. Dafür kann ich
       erzählen, wie es dazu kam, dass mich diese Frage schlagartig überfiel.
       
       Da ist also dieser Raum, Scherben, mit seinen verspiegelten Fenstern, den
       ausgelegten Pressetexten in nüchterner Courier-Schrift, und das Wichtigste,
       die Ausstellung selbst, „Vulture“. Und Vulture, der Geier, funktioniert
       eigentlich sehr gut als Metapher, um die Spannung einzufangen, die diese
       Ausstellung beherrscht:
       
       Die in drei Ecken verteilten Kunstwerke – Fotografien von Sigmar Polke,
       Collagen von Mickael Marman und Skulpturen von Dylan Spasky – geben, etwas
       vulgär gesagt, perfekte Kadaver ab. In ihrer materiellen Rohheit sind sie
       abstoßend und anziehend zugleich, über ihnen zieht lauernd der Geier seine
       Kreise.
       
       ## Grausame Endlosschleife
       
       Für Dylan Spaskys Schwamm-Skulpturen trifft dieses Bild besonders zu. Das
       lebensgroße Bambi-Reh, was mal Dekor war, jetzt aber ohne Plastikhülle fast
       nackt und ausgeliefert wirkt, genauso der gehäutete Teddybär oder die
       Delphin-bedruckte Trinkflasche am Boden, die das immer gleiche Wasser aus
       dem Becken um sie herum erst aufsaugt und dann wieder ausspuckt – eine
       grausame Endlosschleife.
       
       Alles Spielerische an diesen Objekten ist pervertiert. Sie haschen in ihrer
       schrillen Trash-Ästhetik zwar weiter nach unserer Aufmerksamkeit – lassen
       uns geiern –, aber nur bis die Falle zuschnappt, unsere Aufmerksamkeit in
       der Obszönität ihres Anblicks erstarrt oder sich in sinnlosen
       Kreislaufbewegungen totläuft. Und ist das nicht unsere Gegenwart? Der
       Orange Man? Tiktok? Lohnarbeit? Weltflucht?
       
       Mickael Marmans Malereien funktionieren ähnlich, die collagierten
       Zeitungsschlagzeilen krallen nach unserer Aufmerksamkeit, verblassen aber
       in einer wüsten, abstrakten Farblandschaft, führen ins Nirvana. Und dann
       ist da noch [2][Sigmar Polke] – eigentlich ein Gegenwartskünstler avant la
       lettre – und seine druckerschwarzen, magisch beiläufigen
       Negativ-Fotografien aus den 1970ern.
       
       Wie der Schatten einer nebulösen Vergangenheit legen sie sich über den Rest
       des Raums, eine Kontinuitätslinie zwischen diesem Gestern und dem Heute
       lässt sich allerdings nicht ziehen. Das schale Gegenwartsgefühl in Spaskys
       und Marmans Arbeiten bleibt ohne klärenden Kontext, Polkes Präsenz lässt es
       ausschließlich plastischer wirken.
       
       Auf meine Frage, was die Gegenwart eigentlich ist, werde ich hier also
       keine Antwort bekommen – und das ist auch gut so. Wenn ich aber Dylan
       Spaskys fragiles, pissgelbes Schwamm-Bambi sehe, weiß ich zumindest:
       [3][Der Lack ist ab]. Die Gegenwart wird sich ihren Weg schon bahnen. Für
       einen Moment. In einer Nische, die Scherben heißt. Und ist das nicht das
       Beste, was wirklich, [4][echter Gegenwartskunst in Berlin gerade passieren
       kann?]
       
       28 Aug 2025
       
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