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       # taz.de -- Seenotrettung im Mittelmeer: Unter Beschuss
       
       > Am vergangenen Sonntag hat die libysche Küstenwache die „Ocean Viking“
       > angegriffen. Nun ermittelt die italienische Polizei.
       
   IMG Bild: Die Ocean Viking nach dem Beschuss am vergangenen Sonntag
       
       Berlin taz | Nach dem Angriff der libyschen Küstenwache auf [1][die „Ocean
       Viking“] hat die italienische Polizei Ermittlungen aufgenommen. Beamte
       hätten Schäden auf dem Seenotrettungsschiff der Hilfsorganisation SOS
       Méditerranée gesichtet und Zeug*innen befragt. Das teilte die zuständige
       Staatsanwältin in Syrakus auf Sizilien mit, wo das Schiff zur Zeit ankert.
       SOS Méditeranée fordert eine vollständige und unabhängige Untersuchung der
       Vorfälle. Die Angreifer müssten zur Verantwortung gezogen werden, so die
       Organisation.
       
       Am Sonntag war die „Ocean Viking“ von einem Schiff der libyschen
       Küstenwache beschossen worden. Das Seenotrettungsschiff war nach Angaben
       der Besatzungsmitglieder in internationalen Gewässern unterwegs, etwa 40
       Seemeilen vor der libyschen Küste, auf der Suche nach einem
       Geflüchtetenboot in Seenot. Neben der Crew waren 87 bereits aus Seenot
       gerettete Menschen an Bord.
       
       Gegen 15 Uhr sei ihnen ein Corrubia-Patrouillenboot der libyschen
       Küstenwache begegnet – also ein Modell, das 2023 von Italien im Rahmen
       eines EU-Programms an Libyen übergeben wurde. Über das Funksystem hätte die
       libysche Küstenwache die „Ocean Viking“ dazu aufgefordert, das Gebiet zu
       verlassen. In internationalem Gewässern hat die Küstenwache zwar kein Recht
       dazu. Die Besatzung der „Ocean Viking“ habe sich dennoch über Funk dazu
       bereiterklärt, in Richtung Norden abzudrehen.
       
       Trotzdem hätten zwei Männer ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Etwa 20
       Minuten habe der Beschuss gedauert. Fotos zeigen, dass Schüsse die Brücke
       der „Ocean Viking„trafen, Fenster auf Kopfhöhe durchschossen wurden,
       Rettungsboote und Ausrüstung beschädigt.
       
       ## Salven auf das Schiff
       
       Besatzungsmitglied John war während des Angriffs mit den geretteten
       Geflüchteten im Männerschutzraum an Bord. „Wir hörten Einschläge am Rumpf,
       direkt neben uns. Durch das Fenster konnten wir ihre Flagge sehen. Während
       sie uns umkreisten, feuerten sie sowohl Einzelschüsse als auch Salven auf
       das Schiff und unsere Rettungsboote“, berichtet er. Ein Notruf der „Ocean
       Viking“ an die nächstgelegene Nato-Einheit, ein Schiff der italienischen
       Marine, sei nicht entgegengenommen worden.
       
       „Der libyschen Küstenwache geht es darum, die Seenotretter*innen
       einzuschüchtern“, vermutet Julia Leithauser, Sprecherin von SOS
       Méditeranée. Immer wieder kommt es im Mittelmeer zu Begegnungen zwischen
       libyschen Patrouillenbooten und Schiffen der zivilen Seenotrettung. Dabei
       gab es auch in der Vergangenheit Zusammenstöße, Warnschüsse oder Schüsse
       auf Geflüchtetenboote. Der Vorfall vom Sonntag sei aber eindeutig eine
       Eskalation, so Leithauser.
       
       Italien und [2][die EU] unterstützen die libysche Küstenwache seit 2017 –
       mit Geld, Technik, Ausrüstung und operativ. Im Gegenzug soll die
       Küstenwache Menschen davon abhalten, über das Mittelmeer nach Europa zu
       gelangen. Doch die Einsatzkräfte sind immer wieder an schwersten
       Menschenrechtsverletzungen beteiligt, wie [3][Berichte der Vereinten
       Nationen] zeigen.
       
       Geflüchtete berichten von Folter, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und
       Sklaverei in libyschen Internierungslagern. Regelmäßig rette die „Ocean
       Viking“ Schiffbrüchige, die Foltermale aufweisen, berichtet auch
       Leithauser. Die libysche Küstenwache lauere Booten auf, nehme die
       Flüchtenden gefangen und verbringe sie in Gefängnislager an Land.
       
       ## Auf brutalste Weise
       
       Manchmal montierten sie sogar die Motoren der Boote ab und verkauften sie
       an die nächsten Schlepper. „Die Ausbeutung von Menschen auf der Flucht ist
       in Libyen zum Geschäft geworden“, meint Leithauser.
       
       SOS Méditeranée fordert von der EU, die Zusammenarbeit mit der libyschen
       Küstenwache zu beenden. Auch Marcel Emmerich, Sprecher für Innenpolitik der
       Grünen Bundestagsfraktion findet: „Die Zusammenarbeit der EU mit der
       libyschen Küstenwache ist ein großer Fehler und muss beendet werden.“ Der
       Beschuss der „Ocean Viking“ zeige, wie Retter und Gerettete auf brutalste
       Weise zur Zielscheibe würden. Wer schweige, mache sich mitschuldig am
       Sterben an Europas Außengrenzen.
       
       In den vergangenen zehn Jahren haben zivile Seenotretter*innen etwa
       175.000 Geflüchtete auf dem Mittelmeer geborgen. Auch die „Ocean Viking“
       will weiterhin Menschen aus Seenot retten. Zuerst müssten aber das Schiff
       und die Ausrüstung repariert werden. „Und wir fragen uns jetzt natürlich:
       Wie arbeiten wir weiter, ohne uns und die Menschen, die wir retten, in
       Gefahr zu bringen?“, sagt Leithauser. „Aber keine*r von uns ist bereit
       aufzugeben.“
       
       27 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vorwuerfe-gegen-Italien-bei-EU-Kommission/!5944839
   DIR [2] /Flucht-als-Geschaeft/!6103358
   DIR [3] https://news.un.org/en/story/2023/03/1135052
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Luisa Faust
       
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