URI: 
       # taz.de -- Rollstuhlskaten: Wheelie mit dem Rolli
       
       > Levi Klußmann ist Rollstuhlskater, er stürzt sich mit seinem Fahrgerät in
       > die Halfpipe. Durch den Sport wird auch sein Alltag einfacher.
       
   IMG Bild: Levi Klußmann, 20, skatet gern zu Punkrock-Klängen
       
       Scharbeutz taz | Durch die Öffnung seines Helms schaut er in den Abgrund.
       Zentimeter für Zentimeter tastet er sich vor, balanciert die Räder auf der
       Kante. Durchatmen, das Gewicht nach vorne verlagern. Dann stürzt er sich
       die Abfahrt der Rampe hinunter.
       
       Lauter als das Aufschlagen der Räder auf dem Beton ist sein Jubelschrei.
       „Jappa!“, ruft Levi Klußmann. Den „Drop-in“ hat er [1][nicht mit dem
       Skateboard] gemacht, sondern mit seinem Rollstuhl.
       
       Beim Rollstuhlskaten, auch Wheelchair-Motocross oder kurz WCMX, wird der
       Rollstuhl zum Sportgerät. Für den 20-Jährigen ist es mehr als eine
       Freizeitbeschäftigung: Es gibt ihm Selbstvertrauen, macht ihn unabhängiger.
       Mit dem Skaten überwindet er Barrieren – im Skatepark, im Alltag und weit
       darüber hinaus.
       
       Klußmann lebt mit seiner Familie in Denkte bei Braunschweig. An einem
       Wochenende im Juli sind sie ins knapp 300 Kilometer entfernte Scharbeutz an
       der Ostsee gefahren. Wo man sonst neben gestreiften Strandkörben und
       Regenwetter nichts Aufregendes erwartet, halten an diesem Tag Feriengäste
       bei ihrem Spaziergang inne.
       
       ## Nervenkitzel beim Skaten
       
       Im Skatepark an der Strandpromenade dröhnt Punkrock aus den Musikboxen.
       Klußmann ist Teil [2][der Community von] Sit’n’Skate, einem gemeinnützigen
       Projekt für Menschen im Rollstuhl, die heute den Skatepark übernehmen.
       
       Seit seiner Geburt hat Klußmann eine Muskelhypotonie, einen Mangel an
       Muskelstärke und -spannung. Woher das bei ihm kommt, weiß man nicht. Als
       Kind konnte er nichts greifen, konnte nicht sitzen, ohne zur Seite
       umzukippen. Die Prognosen waren düster: Er würde nicht selbstständig im
       Rollstuhl fahren können, hieß es. Würde nicht sprechen lernen, die Schule
       nicht schaffen.
       
       Nun tauscht er die Basecap gegen einen Helm, zieht sich Schoner über Knie
       und Ellenbogen und beugt sich nach vorne, um die Klettgurte an den Füßen
       festzuziehen. Am Skaten mag er vor allem den Nervenkitzel: „Da kommt so ein
       Adrenalinkick hoch“, sagt er. Als einer der Ersten steuert er an diesem Tag
       mit seinem Rollstuhl über die Wölbungen des Skatepools, die sich wie
       Sandhügel aus dem Beton erheben.
       
       Klußmann trainiert seit rund eineinhalb Jahren regelmäßig. Das hilft ihm
       auch im Alltag: Bei Bordsteinen, Kanten, Steigungen. „Dafür brauche ich den
       Wheelie“, sagt er. Genau wie beim Skateboard oder BMX-Rad ist ein „Wheelie“
       auch beim Rollstuhlskaten das Balancieren auf den Hinterrädern. „Wenn ich
       den Rollstuhl nicht anheben könnte“, sagt Klußmann, „dann ist der Bordstein
       wie eine Wand vor mir“.
       
       ## Skate-Rollstuhl mit extra Dämpfung
       
       Den 40 Kilometer weiten Schulweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln traut
       sich Klußmann seit dem Skate-Training alleine zu. Und wenn der Absatz nicht
       zu hoch ist, dann springt er auch mal ohne Rampe aus dem Bus. „Wenn man
       skatet, dann hat man im Alltag eigentlich keine Barrieren mehr“, sagt er.
       
       Klußmann hat einen zusätzlichen Skate-Rollstuhl, der Metallrahmen glänzt
       marineblau. Da hab ich Dämpfung drin“, sagt er. Das schont seine
       Wirbelsäule, wenn er sich von oben in die Skaterampen hineinfallen lässt.
       
       Knapp 50 Menschen haben sich in und um den Skatepark versammelt. Ein
       Mädchen mit Schildkrötenmotiv auf den Hinterrädern skatet heute zum ersten
       Mal. Ein kleiner Junge strahlt übers ganze Gesicht, als der Vater die
       Griffe seines Rollstuhls packt und mit ihm quer durch den Skatepark rennt.
       Auch wer sonst nicht im Rollstuhl sitzt, kann das Skaten heute
       ausprobieren.
       
       „Achtung!“, ruft Klußmann, dann fährt er die abgerundete Seitenwand hoch,
       rollt rückwärts wieder runter und nutzt den Schwung, um sich mit dem
       Rollstuhl einmal um sich selbst zu drehen.
       
       ## Auf der Rückenlehne „FCK AFD“
       
       „Let’s go, Levi!“, ruft David Lebuser. Der ist ein Skater, wie er im Buche
       steht: Vans mit Schachbrettmuster, Kapuzenpulli, grün gefärbte Haare. Die
       Lenkrollen vorne am Rollstuhl hat er durch Skateboardrollen ausgetauscht,
       die Rückenlehne klebt voller Sticker: „Sankt Pauli“, „FCK AFD“, „Destroying
       Stereotypes“.
       
       Der 38-Jährige hat das Rollstuhlskaten in Deutschland groß gemacht.
       Inzwischen ist er zweifacher Deutscher Meister und hat gemeinsam mit seiner
       Frau Lisa Lebuser Sit’n’Skate gegründet. Daraus ist eine Community mit
       Menschen aus ganz Deutschland entstanden, die nicht nur Rollstuhlfahrende
       verschiedener Altersgruppen zusammenbringt, sondern auch mit
       unterschiedlich schweren Behinderungen. In sechs Städten organisiert
       Sit'n'Skate Rollstuhl-Skate-Treffen, bietet Workshops und Veranstaltungen
       an.
       
       Lebuser selbst ist seit einem Unfall vor 18 Jahren querschnittsgelähmt. Der
       Rollstuhl war für ihn erst mal „harter Tobak“, sagt er. Skaten bedeutete
       später für ihn ein Austesten der Grenzen: steiler, höher, krasser. „Nicht
       mehr andere haben bestimmt, was möglich ist“, sagt er, „sondern ich hab das
       für mich selbst bestimmt.“
       
       Heute jagt er seinen Rollstuhl über die Rampen. Balanciert ihn auf einem
       Rad, rutscht über Geländerstangen, fährt Treppen herunter. Sein größter
       Trick: der Handplant. Dabei lässt er sich auf der Rampe zur Seite fallen
       und stützt sich mit einer Hand ab. Der Rollstuhl schwebt für einen Moment
       über ihm in der Luft.
       
       Bei Sit’n’Skate gehe es aber nicht darum, der Beste zu sein: „Jeder soll
       mitmachen können und spielerisch den Umgang mit dem Rollstuhl lernen“, sagt
       Lebuser. Es komme beim Rollstuhlskaten nicht auf „krasse Tricks“ an,
       sondern aufs Ausprobieren. Darum, „auch mal Sachen zu machen, die einem als
       Rollstuhlfahrer vielleicht nicht zugetraut werden“, sagt er.
       
       ## „Nix passiert“
       
       Ihn stört, [3][dass das Leben mit Behinderung] oft mit Leid assoziiert
       wird. „Natürlich war der Unfall blöd und auch traurig“, sagt er. „Aber das
       Leben danach war’s eigentlich nie.“
       
       Für Levi Klußmann ist David Lebuser ein Vorbild. Manchmal schickt er ihm
       Videos von sich beim Skaten und fragt nach Tipps. Heute geht das vor Ort,
       Lebuser gibt einen Skate-Workshop: „Am besten ein bisschen schräg
       hochfahren, damit du nicht oben verhungerst“, sagt er und zeigt in Richtung
       Rampe. „Siehst du die Kante? Peil sie an! Nach vorne lehnen und richtig Gas
       geben. Los, los, los!“
       
       Klußmann nimmt Schwung und steuert seinen Rollstuhl auf ein „Corner“ zu,
       eine Eckrampe. Er lehnt sich in die Kurve, dann geht es ganz schnell.
       Klußmann verliert die Kontrolle und stürzt.
       
       Ein Ehepaar dreht sich erschrocken um. „Nix passiert!“, ruft Klußmann. Die
       Frau in geblümtem Kleid muss erst mal durchatmen. „Cool, dass man so was
       macht“, sagt ihr Mann, „Respekt!“
       
       Schnell hat Klußmann sich auf den Bauch gedreht, mit den Händen abgestützt
       und die Hüfte nach oben gedrückt. Er sitzt wieder aufrecht im Rollstuhl,
       weiter geht’s. Neben dem Skaten spielt Levi Schlagzeug und Akkordeon, um
       seine Motorik zu trainieren. Er baut Kugelbahnen, filmt sich dabei,
       schneidet die Videos, lädt sie hoch. Ins Schwimmbad fährt er alleine.
       Inzwischen bringt er auch seinem nicht behinderten Vater das
       Rollstuhlskaten bei.
       
       ## Lässig auf den Hinterrädern
       
       Dass Klußmann für vieles länger braucht als andere, davon lässt er sich
       nicht aufhalten. Er war auf der Förderschule, hat dann seinen
       Hauptschulabschluss gemacht und kürzlich den erweiterten Realschulabschluss
       geschafft. „Du kriegst den Wheelie schon echt gut hin“, sagt ein Mädchen
       mit goldenem Glitzer im Gesicht und bunten Speichen am Rollstuhl, das neben
       ihm angehalten hat. Klußmann balanciert lässig auf den Hinterrädern, die
       vorderen zeigen in die Luft. „Viel Training“, sagt er.
       
       Den Skatepark verlässt er erst, als es anfängt zu regnen. „Der letzte Sturz
       hat bisschen weh getan“, gibt er zu und reibt sich mit einer Hand über die
       Finger. Wie jeder Skater stürzt er eben manchmal. Er will dranbleiben,
       „gucken, was geht“. Irgendwann vielleicht auch an Skate-Wettbewerben
       teilnehmen. „Aber da muss ich noch besser werden“, sagt er.
       
       Im August beginnt seine Ausbildung zum Sozialassistenten im Kindergarten.
       Er will „Kinder motivieren“. Für später kann er sich vorstellen, Eltern mit
       Kindern im Rollstuhl zu beraten – und ihnen zeigen, was mit dem Rollstuhl
       alles möglich ist: „Damit die sehen, es geht auch weiter!“
       
       27 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kinder-bei-den-Skateboard-Wettbewerben/!6023827
   DIR [2] https://www.sitnskate.de/
   DIR [3] /Autor-ueber-sein-Leben-mit-Rollstuhl/!5596911
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lea Fiehler
       
       ## TAGS
       
   DIR wochentaz
   DIR Rollstuhlfahrer
   DIR Inklusion
   DIR Sport
   DIR Behindertensport
   DIR Leben mit Behinderung
   DIR Menschen mit Behinderung
   DIR Behinderung
   DIR GNS
   DIR Berliner Senat
   DIR Rollstuhl
   DIR wochentaz
   DIR Schwerpunkt Paralympics 2024
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Assistenzen im Arbeitgebermodell: Besetzung für gleichen Lohn
       
       Menschen mit Behinderung protestieren am Mittwoch vor der
       Sozialsenatsverwaltung. Sie fordern die freie Wahl ihrer persönlichen
       Assistent*innen.
       
   DIR Fünffacher Deutscher Meister: Rollstuhl-Basketballer Jan Haller wird Nationaltrainer
       
       Niedersachsens Behindertensportverband hat Jan Haller zu seinem Sportler
       des Jahres gekürt. Er beendet seine aktive Karriere und wird Bundestrainer.
       
   DIR Exoskelett für Querschnittsgelähmte: Laufen im Roboteranzug
       
       Ist der „Rise-Exo-One“ eine echte Hilfe oder nur eine Ausrede gegen mehr
       Barrierefreiheit? Zu Besuch bei einem Forschungsprojekt.
       
   DIR Deutsches Gold im Tischtennis: Keine Angst gegen Angstgegnerin
       
       Bei den Olympischen Spielen war Tischtennis aus deutscher Sicht eine
       Randnotiz. Anders bei den Paralympics: Dort gewann Sandra Mikolaschek nun
       Gold.