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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Leben, überleben, weiterleben
       
       > Sie heilte nicht nur Krankheiten, sondern auch die Schrecken der
       > Geschichte. Zu Besuch bei Annemarie Gerson in Wuppertal.
       
   IMG Bild: Annemarie Gerson hat „wahnsinnig viel gearbeitet, aber auch viel auf den Weg gebracht“
       
       Sie ist ein Sonntagskind. Daran hält sich Annemarie Gerson aus Wuppertal
       seit neun Jahrzehnten fest.
       
       Draußen: In dieser Stadt, die aus vielen Orten zusammengewürfelt ist, liegt
       im Tal die Wupper. Von da aus steigen die Ufer wild an. Im Stadtteil
       Unterbarmen aber sind es die Bahngleise, auf die man von oben herabschauen
       kann. Ansonsten ist es ruhig in der Seitenstraße, in der Annemarie Gerson
       in einer Senioreneinrichtung lebt.
       
       Drinnen: Einst hatte Annemarie Gerson eine Wohnung mit Arztpraxis auf 240
       Quadratmetern, am Bahnhof im Stadtteil Elberfeld. Nachdem der Eigentümer
       sie herausklagt hatte – das Haus sollte in Eigentumswohnungen umgewandelt
       werden –, ging sie nach 44 Jahren, in denen sie als Ärztin gearbeitet
       hatte, in Rente und zog in eine Wohnung, die nur noch ein Drittel so groß
       war. Die Wohnung im Seniorenwohnheim, es ist ihre letzte Station, hat nur
       noch 42 Quadratmeter. Deshalb drängen sich die Möbel, die den Touch des
       letzten Jahrhunderts haben, stapeln sich die Erinnerungstücke. Sofa,
       Sessel, Regale. Handpuppen, Bücher, Engelsfiguren. Auf dem Klavier hat
       Gerson Fotos ihrer großen Familie aufgestellt. In einer anderen Ecke
       gezeichnete Porträts ihrer Eltern, ihrer älteren Schwester und ihrer
       Zwillingsschwester. Um diese kreisen ihre Gedanken.
       
       Religion: Gersons Mutter war Christin, ihr Vater Sohn eines Rabbiners, der
       nach dem Ersten Weltkrieg zum Christentum konvertierte. „Er saß 18-jährig
       im Schützengraben, sie wurden beschossen. Da zog ein Kamerad die Bibel aus
       dem Tornister und las daraus vor. Mein Vater sagte: ‚Wenn ich das überlebe,
       werde ich Christ.‘“ Was sie aus der Verschmelzung der beiden Religionen in
       ihrer Familie mitgenommen hat, ist die Freiheit, im Glauben vor allem das
       Fließende zu sehen. Deshalb ist sie heute Christin und Quäkerin und
       Anthroposophin in einem.
       
       Philosophie: Auch das Leben fließt. „Und es geht weiter nach dem Tod“, sagt
       Gerson. Sie weiß es genau. Sie öffnet die Arme beim Sprechen, denn so wie
       sie Menschen begrüßt, begrüßt sie das Unvermeidliche. „Der Todestag ist der
       Himmelsgeburtstag“, sagt sie. Mit dieser Überzeugung hat sie versucht,
       ihrer 93 Jahre alten Schwester das Sterben zu erleichtern, nachdem sie sie,
       selbst schon hochbetagt, über fünf Jahre in ihrer winzigen Wohnung betreut
       hatte. Das Pflegebett passte gerade noch ins enge Wohnzimmer.
       
       Nur ein schmaler Gang zum Balkon blieb frei. Aber die Schwester habe das
       mit der Unendlichkeit des Lebens nicht sehen wollen, „sie konnte so lange
       nicht gehen“. Jahre zuvor hat Gerson auch ihre Zwillingsschwester bis zum
       Tod gepflegt. „Ich bin ein Zwilling im Sternzeichen Zwilling.“ 1935 kamen
       sie und ihre Schwester im Mai in Berlin zur Welt. Da arbeiteten die Nazis
       schon an der Vernichtung der Juden. „Aber ich bin ein Sonntagskind“, sagt
       Annemarie Gerson. Es hört sich wie eine Glücksgarantie an. „Ich bin
       glücksbegabt.“ Den Satz wiederholt sie gerne.
       
       Geschichte: Dabei ist Glück relativ. Drei der Geschwister ihres Vaters
       wurden mit ihren Familien in Auschwitz ermordet. Einer hatte [1][die
       Hachschara in Neuendorf im Sande] bei Berlin geleitet, wo junge Juden und
       Jüdinnen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Die Nazis
       machten daraus dann ein Zwangsarbeitslager. „Auch mein Vater musste
       Zwangsarbeit leisten. Klos putzen, Bomben entschärfen.“ Arbeit schände
       nicht, soll er immer gesagt haben. Zwei der Geschwister des Vaters
       schafften es noch rechtzeitig nach Kanada und Israel. „Sie wollten nicht
       gehen. Sie waren Deutsche. Sie liebten die Sprache, die Kultur.“ Gerson
       redet schnell; sie hat so viel zu erzählen, weil es doch nicht um sie gehen
       soll, sondern um die anderen. Die gilt es zu würdigen.
       
       Rosenstraße: Ihre christliche Mutter wurde drangsaliert, ihren aus Sicht
       der Nazis jüdischen Mann zu verlassen. Sie hat sich geweigert. Der Vater
       hat überlebt, weil die nichtjüdischen Ehefrauen – darunter Gersons Mutter –
       [2][in der Berliner Rosenstraße protestierten], wo die Männer in einem
       Sammellager interniert waren, bevor sie deportiert werden sollten. „Gebt
       unsere Männer frei“, skandierten sie trotz Einschüchterung der Gestapo. Die
       Nazis lenkten ein.
       
       Schrecken: Sie selbst habe nicht so viel Schlimmes mitbekommen, sagt
       Gerson. Natürlich, an die vielen Toten auf den Straßen erinnert sie sich.
       Und an das Erdloch, das ihr Vater grub und über dem eine Stahlplatte lag.
       Bei Bombenalarm saßen sie darin. Ihr angeblich jüdischer Vater durfte nicht
       in die Luftschutzbunker. Auch sie und ihre Schwestern, die von den Nazis zu
       „Mischlingen ersten Grades“ erklärt wurden, durften mitunter nicht in die
       Schutzräume. „Macht den Mund auf, damit das Trommelfell nicht platzt“,
       ermahnte der Vater die Kinder immer, wenn sie im Erdloch saßen. „Wenn wir
       nach der Entwarnung aus dem Loch krochen, sammelte ich Metallsplitter auf.
       Damit konnte ich ein paar Pfennige verdienen.“
       
       Angst: Annemarie Gerson ließ den Schrecken nicht so an sich herankommen.
       Ihre ältere Schwester schon. „Sie hatte ihr Leben lang Angst. Sie hat schon
       mehr verstanden als ich. Ich konnte kaum lesen, da kam ich mit ihr an einer
       Litfaßsäule vorbei, auf der ein Plakat hing, wo Juden schlechtgemacht
       wurden. ‚Nein, wir sind keine schlechten Menschen‘, habe ich geschrien.
       ‚Wir sind Juden und sehr gute Menschen.‘ Die Schwester hat mich angebrüllt.
       ‚Sei still!‘“
       
       Musik: In der Familie wurde der Schrecken mit Schönem in Schach gehalten.
       Es wurde musiziert, Gerson lernte Querflöte, Geige und Cello.
       Tanzunterricht hatte sie auch, sogar bei der berühmten Tänzerin Gret
       Palucca. Und es wurde gesungen. Annemarie Gerson jedenfalls wäre in ihren
       Träumen gerne Tänzerin und Musikerin geworden. Die Geschichte trug ihr
       anderes auf: Sie sollte das Unheil heilen, den Verlust der Menschen, die
       Zerstörung, das chronische Erbleiden ihrer Zwillingsschwester, die Angst
       ihrer älteren Schwester. Denn wie konnte man sonst weiterleben nach dem
       Krieg?
       
       Anläufe: Nach dem Abitur folgte sie dennoch erst einmal ihrem Traum. Sie
       wollte ins Nachwuchsorchester in Berlin aufgenommen werden. Am ersten Tag
       sei das Vorspiel gut gelaufen, erzählt sie. Am zweiten nicht. Es wurde ihr
       geraten, weiter vom Blatt abspielen zu üben. „Das fängt ja gut an“, dachte
       sie und ließ es sein. „Ich war nicht selbstbewusst. ‚Dann werde ich eben
       Krankenschwester‘, sagte ich.“ Der Vater wiederum fand es nicht gut, dass
       sie kein Studium machen wollte. So kam sie zur Medizin. Sie studierte in
       Berlin und Gießen.
       
       Selbstbewusstsein: „Ich dachte, weil ich so klein bin, brauche ich einen
       Doktortitel.“ Aber beim ersten Anlauf konnte sie keine Ergebnisse liefern.
       Ihre Arbeit wurde nicht anerkannt. „Notgedrungen musste ich eine zweite
       Doktorarbeit schreiben. Ich wollte den Titel unbedingt, obwohl ich ihn
       nicht gebraucht hätte.“ In der Zeit traf sie auf eine Patientin, die
       dieselben Symptome hatte wie ihre Schwester. Der Patientin wurde die Milz
       entfernt, weil sie als Verursacherin der chronischen Krankheit ausgemacht
       war. Gerson drängte ihre Schwester, sich operieren zu lassen. „Ich wartete
       vor dem OP-Saal. Der Chirurg kam raus und zeigte mir die viel zu große
       Milz, ich bin fast in Ohnmacht gefallen.“ Die Behandlung zeigte Wirkung.
       „29 Jahre habe ich Irene nur krank erlebt. Nun ging es ihr besser.“
       
       Die Praxis: Nachdem Gerson Jahre in Krankenhäusern gearbeitet hatte, bat
       eine Freundin sie, sie in ihrer Praxis in Wuppertal-Elberfeld zu vertreten.
       Und bald bat sie sie auch, die Praxis mit ihren fünf Angestellten zu
       übernehmen. Gerson tat es, ohne viel Ahnung, was daran hängt. „Ich habe Tag
       und Nacht gearbeitet und kriegte grenzenlos Kredit für die Löhne der vielen
       Angestellten. Nach ein paar Jahren war ich völlig überschuldet.“ Eine
       schlimme Zeit. „Aber weil ich glücksbegabt bin, und immer Menschen treffe,
       die wie Engel sind, hat sich am Ende doch alles geklärt.“
       
       Märchen: „Ich habe wahnsinnig viel gearbeitet. Aber ich habe auch viel auf
       den Weg gebracht.“ Gerson hat eine Pflegeeinrichtung gegründet, sich in
       [3][alternativer Medizin] weitergebildet, war Ärztin für ausweglose Fälle.
       „Ich bin Schulmedizinerin, aber dass ich keine anthroposophische Medizin
       einsetzen darf, obwohl ich mich ein Leben lang damit beschäftigt habe, das
       verstehe ich nicht. Ich schätze beide Richtungen gleich.“ Hat sie aber doch
       einmal Zeit für sich, musiziert sie mit anderen oder inszeniert Märchen mit
       selbstgebastelten Handpuppen. „Das Märchenspiel hat mir die Welt schon
       während des Krieges erträglich gemacht.“ Es hat ihr gezeigt, dass alles gut
       wird.
       
       Verzicht: Aber sagen Sie, wie war es mit der Liebe? „Ja das ist auch so ein
       Ding“, antwortet Annemarie Gerson, „dreimal war ich sehr verliebt, und es
       war gegenseitig. Die Männer waren verheiratet. Und ich wollte doch nicht
       dafür verantwortlich sein, dass Menschen sich trennen.“
       
       2 Sep 2025
       
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