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       # taz.de -- Ausbildungsstart in Berlin: Ungewollte Zukunft
       
       > Berlin geht mit dem Fachkräftenachwuchs stiefmütterlich um.
       > Bildungspolitische Maßnahmen lösen die Krise bisher nicht.
       
   IMG Bild: Ungewisser Blick in die Zukunft: Schüler:innen der Rütli-Schule in Neukölln
       
       Berlin taz | Tausende Jugendliche sind zu unfähig, um die Anforderungen an
       einen Ausbildungsplatz zu erfüllen – so, etwas zugespitzt, lässt sich das
       Ergebnis der [1][am Montag veröffentlichten Umfrage der Industrie- und
       Handelskammer (IHK)] zusammen fassen. Das Resultat ist nicht überraschend,
       kommt die IHK doch fast jedes Jahr zu demselben Schluss und gibt
       entsprechende Handlungsempfehlungen: Bessere Kompetenzvermittlung und mehr
       Berufsberatung an den Schulen, dann klappt es auch mit der Vermittlung von
       Ausbildungsplätzen.
       
       Doch ein Blick auf die Ursachen von Berlins Ausbildungskrise zeigt: Die
       Erzählung der ungebildeten Problemjugendlichen als Ursache für die
       Ausbildungskrise greift zu kurz. Viele Bewerber:innen sind motiviert
       und fähig, finden aber trotzdem keinen Ausbildungsplatz. Auch Unternehmen
       müssen sich öffnen, wenn sie dem Fachkräftemangel in Zukunft etwas
       entgegensetzen wollen.
       
       Laut der bei der [2][Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Zahlen] gibt es zu
       Beginn des Ausbildungsjahres immer noch 4.548 unbesetzte Ausbildungsplätze
       und 7.824 Jugendliche, die noch auf der Suche nach einer Stelle sind.
       
       Volkswirtschaftlich ist angesichts des sich verschärfenden Fachkräftemangel
       jeder unbesetzte Ausbildungsplatz einer zu viel. Die IHK selbst
       prognostiziert, dass es in Berlin bis 2035 über 163.000 unbesetzte Stellen
       geben könnte. Dabei sind es gerade Ausbildungsberufe, die die Stadt am
       Laufen halten: Pflegekräfte, Erzieher:innen, Busfahrer:innen,
       Mechatroniker:innen und Handwerker:innen. „Wir stecken in einer
       Ausbildungskrise, die schon seit Jahren anhält“, sagt die Grüne
       Bildungspolitikerin Tonka Wohjan.
       
       ## Viel Müh für nix
       
       Belastend ist die Situation auch für ausbildungswillige Jugendliche. Sie
       kriegen häufig nicht einmal Absagen und seien mit unrealistischen
       Erwartungen konfrontiert, zeigte eine [3][am Freitag veröffentlichte
       Umfrage des Deutschen Gewerkschaftsbundes.] „Allgemein ist es ermüdend,
       wenn kein Erfolg in Sicht ist und nur automatisierte Antworten kommen ohne
       die richtigen Gründe und Feedback, woran es gelegen hat“, zitiert die
       Studie einen Teilnehmer.
       
       Umso erstaunlicher ist, warum die Unternehmen nicht ausbilden. Laut der
       IHK-Umfrage gaben 39 Prozent der Unternehmen an, nicht alle Stellen besetzt
       zu haben. Der Hauptgrund war für 60 Prozent, dass keine geeigneten
       Bewerbungen vorlägen. In einem Viertel der Fälle wurden die Verträge durch
       die Unternehmen aufgelöst.
       
       Die Ursache für den großen „Mismatch“ sieht die IHK im mangelnden
       Bildungssystem. Der Senat müsse sich mehr auf die Vermittlung von
       Basiskompentenzen wie Rechnen, Lesen und Schreiben konzentrieren, um die
       Jugendlichen Ausbildungsreif aus der Schule zu entlassen.
       
       Doch an den Schulen [4][schlägt ebenfalls die Kürzungspolitik der letzten
       Jahre durch]. Aus einer Anfrage der Linken geht hervor, dass von rund 4.200
       benötigten voll ausgebildeten Lehrkräften zum kommenden Schuljahr lediglich
       695 eingestellt wurden. „Darunter leidet selbstverständlich auch die
       Bildungsqualität“, sagt Bildungspolitikerin Franziska Brychcy (Linke). Die
       Gewerkschaft Erziehung und Wirtschaft (GEW) prophezeit mehr Vertretungen,
       weniger Unterricht und eine steigende Belastung der Lehrkräfte. Derweil
       sieht der neue Haushaltsentwurf Kürzungen bei der Grundfinanzierung der
       Hochschulen und bei den Sondermitteln für Lehrkräftebildung vor.
       
       ## Unorientierte Schüler
       
       Auch das 11. Pflichtschuljahr, das am Mittwoch startet, dürfte keine
       Abhilfe schaffen. Demnach müssen alle Jugendliche, die die 10. Klasse ohne
       Abschluss verlassen – jedes Jahr sind das um die 3.000 – noch ein weiteres,
       berufsorientierendes Jahr in sogenannten „Ankerschulen“ absolvieren. Das
       sind Oberstufenzentren (OSZ), in denen sich die Jugendlichen
       praxisorientiert auf eine Ausbildung vorbereiten sollen.
       
       Doch wenige Tage vor Beginn gibt es mit dem elften Pflichtschuljahr noch
       zahlreiche Probleme. Vielen Schulen seien mehr Schüler:innen zugeteilt
       worden, als sie überhaupt Kapazitäten haben, berichtet Ronald Rahmig,
       Vorsitzender der Vereinigung der Leitungen berufsbildender Schulen in
       Berlin. „Das Hauptkriterium war scheinbar, dass die Schüler formal versorgt
       sind“, sagt er. Zusätzliche Lehrkräfte für den Mehrbedarf haben die
       Oberstufenzentren nicht bekommen.
       
       Auch kämen viele der Pflichtschüler völlig unorientiert aus der Schule,
       während die Oberstufenzentrum gezielt auf spezifische Branchen, wie
       Mechatronik, Gastronomie oder Pflege vorbereiten, kritisiert Rahmig.
       
       Praktikabler wäre für Unternehmen auch bislang „ungeeignete“
       Bewerber:innen einzustellen – das heißt auch solche mit zu schlechten
       Noten, Fehltagen oder einem Kopftuch. In der DGB-Umfrage gaben 40 Prozent
       der Befragten an, während der Ausbildungsplatzsuche
       Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben. Ein anderer Teilnehmer gab
       an, bei einem Einstellungstest die letzte Novelle des Pflegeberufsgesetzes
       wiedergeben zu müssen.
       
       Nicht zuletzt hängt die Attraktivität vom Geld ab. Viele Jugendliche können
       sich vom Azubi-Gehalt keine Wohnung leisten und gehen lieber gleich jobben.
       Fast 60 Prozent gaben in der DGB-Umfrage an, dass ein gutes Gehalt wichtig
       sei – weit vor allem anderen. Bildungspolitikerin Tonka Wohjan fordert
       [5][neben der Ausbildungsumlage] daher auch ein „Azubi-Werk“, das günstigen
       Wohnraum bereitstellt. „Viele Azubis würden gerne in Berlin bleiben, können
       es sich aber nicht leisten.“
       
       1 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ihk.de/berlin/presse/presseinfo/pressemitteilung-2025-09-01-ausbildungsstart-6717600
   DIR [2] https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/rd-bb/presse/2025-10-ausbildung-bester-schutz-vor-arbeitslosigkeit
   DIR [3] /DGB-Studie/!6110670
   DIR [4] /Kuerzungen-in-Berlin/!6101988
   DIR [5] /Ausbildungsumlage-in-Berlin/!6104941
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Wahmkow
   DIR Lea Knies
       
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