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       # taz.de -- Eine Frage der Kommunikationsstrategie: Tod am Bahnsteig
       
       > Ein Asylbewerber wird verdächtigt, am Bahnhof Friedland eine junge
       > Ukrainerin getötet zu haben. Die Polizei steht wegen Falschmeldungen in
       > der Kritik.
       
   IMG Bild: Gedenken an die Jugendliche: Blumen und Kerzen am Bahnhof Friedland
       
       Hannover taz | Der Alptraum begann am 11. August. Die 16-jährige Liana K.
       steht gegen 16 Uhr am Bahnsteig des Bahnhofes Friedland im Landkreis
       Göttingen. Sie kommt aus der Zahnarztpraxis, in der sie gerade erst ihre
       Ausbildung begonnen hat und will nach Hause ins thüringische Heiligenstadt,
       wo ihre Eltern und ihre beiden kleinen Brüder auf sie warten. Weil sie sich
       belästigt und bedroht fühlt, ruft sie ihren Großvater an, berichten mehrere
       Medien unter Berufung auf die Familie. Der spricht mit ihr, hört dann aber
       nur noch Schreie und das Rattern des durchfahrenden Güterzuges. Die
       16-Jährige stirbt auf dem Bahnsteig.
       
       Für die Eltern ist früh klar: Das kann weder ein Suizid noch ein Unfall
       gewesen sein. Als vorsichtig, umsichtig und gewissenhaft beschreibt auch
       der Bürgermeister des Ortes Geisleden, Markus Janitzki (CDU), das Mädchen.
       Er kennt und betreut die Familie, seit sie 2022 aus dem ukrainischen
       Mariupol geflüchtet sind.
       
       Die Polizei Göttingen spricht aber zunächst von einem Unfall oder Unglück.
       In ihrer Verzweiflung wendet sich die Familie an verschiedene politische
       Parteien. Vor allem die AfD Eichsfeld reagiert darauf und heizt auf
       Facebook die Spekulationen um den Fall weiter an. Warum gab es dort keine
       Videoüberwachung? War es Mord? Kommt der Täter aus dem [1][Lager
       Friedland]?
       
       Die Spekulationen, die Wut und Empörung schießen soweit ins Kraut, dass
       sich die Polizei Göttingen genötigt sieht, eine weitere Pressemitteilung zu
       verfassen. Darin warnt sie vor Fake News und erklärt, man behalte sich
       rechtliche Schritte vor, sollten weiterhin Falschmeldungen verbreitet
       werden.
       
       ## Polizei muss sich korrigieren
       
       Ein zentraler Punkt ist dabei die Debatte um die Videoüberwachung, um die
       sich erste [2][Verschwörungstheorien] ranken. Aber auch ein Polizeieinsatz,
       der noch am Abend des Tattages in der Geflüchtetenunterkunft Friedland
       stattgefunden hat. Man ermittle in alle Richtungen, auch zu den angeblichen
       Bezügen zu Bewohnern des Grenzdurchgangslagers Friedland, heißt es in der
       Mitteilung am 27. August.
       
       Aber: „Die polizeiliche Präsenz am betreffenden Abend bezog sich auf die
       Unterstützung des Rettungsdienstes in einer gesundheitlichen
       Angelegenheit.“ Das klingt zunächst, als habe beides nichts miteinander zu
       tun.
       
       Nur zwei Tage später muss die Polizei allerdings bekannt geben, dass dies
       nicht so ist. Denn bei beiden Einsätzen begegnen die Polizisten derselben
       Person: dem 31-jährigen Muhammad A., einem Asylbewerber aus dem Irak.
       
       Er war derjenige, der am 11. August die Beamten zur Leiche der 16-Jährigen
       auf dem Bahnsteig führte. Dabei soll er ausgesagt haben, er habe sie so
       gefunden und versucht, Hilfe zu holen. Die Beamten nahmen seine Aussage
       auf, unterzogen ihm einen Atemalkoholtest, der 1,35 Promille ergab und
       ließen ihn laufen.
       
       Wenige Stunden später wird eine Streife ins Lager Friedland gerufen. Dort –
       wie zuvor schon am Bahnhof – randaliert jemand, der sich offensichtlich in
       einem schweren psychischen Ausnahmezustand befindet. Es ist wieder der
       31-jährige Asylbewerber. Die Beamten unterstützen den Abtransport in die
       Psychiatrie.
       
       Dort ist der Mann immer noch, als die Ergebnisse eines DNA-Tests
       eintreffen. An der Schulter des getöteten Mädchens fanden sich deutliche
       Anhaftungen seiner DNA. So viel, dass die Polizei davon ausgeht, dass er
       fest zugepackt und das Mädchen gegen den mit 110 Stundenkilometer durch den
       Bahnhof rauschenden Güterzug geschubst haben muss.
       
       Damit konfrontiert, schweigt der Tatverdächtige. Die Staatsanwaltschaft
       beantragt einen Unterbringungsbefehl wegen Totschlages. Ob er
       strafrechtlich belangt werden kann oder schuldunfähig ist, muss das weitere
       Verfahren klären.
       
       Was Polizei und Staatsanwaltschaft bei dieser Gelegenheit auch mitteilen:
       Der 31-Jährige hätte eigentlich längst nach Litauen abgeschoben worden sein
       sollen. Er ist 2022 in Braunschweig aufgetaucht, sein Asylantrag wurde im
       Dezember 2022 zurückgewiesen, die Klage dagegen etwas mehr als zwei Jahre
       später. Seit März 2025 soll er vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sein,
       ein Antrag auf Abschiebehaft scheiterte aber im Juli 2025 vor dem
       Amtsgericht Hannover.
       
       ## Bürgermeister unterstützt Familie
       
       Ein Sprecher des Gerichtes erklärte gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen
       und der Bild, der Antrag sei unzureichend begründet gewesen und hätte
       verschiedene rechtliche Anforderungen nicht erfüllt. Die Chance auf eine
       Nachbesserung habe die betreffende Ausländerbehörde nicht wahrgenommen. Die
       zuständige Landesaufnahmebehörde bestreitet das.
       
       Im Juli hatte der 31-Jährige außerdem noch eine 20-tägige
       Ersatzfreiheitsstrafe in Hannover verbüßt. Danach soll er sich erneut in
       Friedland als Asylsuchender gemeldet haben.
       
       In den Augen von [3][Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD)]
       zeigt der Fall einmal mehr die massiven Probleme des sogenannten
       [4][Dublin-Verfahrens]. „Es ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht
       vermittelbar, dass sich Personen jahrelang in Deutschland aufhalten, obwohl
       ein ganz anderer EU-Staat für sie zuständig ist.“
       
       Auch die CDU-Opposition fordert nun Aufklärung: „Die Innenministerin muss
       im Innenausschuss umfassend darlegen, warum die seit März bestehende
       Möglichkeit zur Abschiebung nicht umgesetzt wurde“, erklärte die
       parlamentarische Geschäftsführerin der CDU-Fraktion im niedersächsischen
       Landtag, Carina Hermann. Das Innenministerium betont, der Sachverhalt werde
       nun intern unter Hochdruck aufgeklärt, am Donnerstag sollen die
       Abgeordneten im Innenausschuss unterrichtet werden.
       
       Im [5][thüringischen Eichsfeld] bemüht sich derweil der Bürgermeister
       Markus Janitzki (CDU) weiter, Unterstützung für die Familie zu
       organisieren. „Die Wut und das Unverständnis ist natürlich groß – die
       Anteilnahme aber auch.“ Die Gemeinde hat schon früh einen Spendenaufruf
       gestartet, um die Familie von den Beerdigungskosten zu entlasten. 24.000
       Euro sind daraufhin bis Montagmorgen bereits eingegangen, sagte Janitzki
       der taz. In zwei Wochen soll die Trauerfeier stattfinden und er hoffe, dass
       man die Familie dann auch trauern lässt und sie nicht für politische
       Instrumentalisierungen benutzt.
       
       1 Sep 2025
       
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