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       # taz.de -- Putsch in der Sowjetunion: Der vergessene August 1991
       
       > Drei Tage dauerte 1991 ein Putsch an, der den Untergang des
       > Sowjetimperiums verhindern sollte. Heute erinnert der Staatsstreich an
       > verpasste Chancen Russlands.
       
   IMG Bild: Michail Gorbatschow (v.l.) kehrt mit seiner Familie nach dem gescheiterten Augustputsch aus dem Urlaub nach Moskau zurück, 1991
       
       Auf Facebook sah ich ein Foto einer kleinen Gruppe, die sich am 22. August
       in Moskau in der Nähe des Weißen Hauses versammelt hatte, um an jene drei
       Tage im August 1991 zu erinnern, die – so schien es damals – das Schicksal
       Russlands bestimmt hatten.
       
       Am frühen Morgen des 19. August 1991 kehrte ich von der Datscha nach Moskau
       zurück. Im Zug saßen Menschen mit verschlafenen Gesichtern, und nichts
       deutete darauf hin, dass im Land etwas geschah. Doch kaum hatte ich die
       Wohnung betreten, klingelte das Telefon – es war mein Vater, der sagte:
       „Schalte das Radio ein – wir haben einen Staatsstreich.“
       
       Auf allen Fernseh- und Radiosendern wurde die „Erklärung der sowjetischen
       Führung“ ausgestrahlt, in der es hieß, dass [1][Gorbatschow]
       krankheitsbedingt seine Pflichten als Präsident der UdSSR nicht mehr
       ausüben könne. Seine Befugnisse gingen auf Vizepräsident Janajew über, und
       die Staatsgewalt auf das „Staatliche Ausnahmezustandskomitee“.
       
       Warum das in diesem Moment geschah, war klar: Am 20. August sollte
       Gorbatschow den neuen Unionsvertrag unterzeichnen, und es war
       offensichtlich, dass Prozesse beginnen würden, die das sowjetische Imperium
       untergraben würden.
       
       ## Zeitungen wurden verboten
       
       Gorbatschow war in seiner Residenz auf der Krim isoliert. Viele Zeitungen
       wurden verboten, und im Fernsehen lief nur noch „Schwanensee“. Es waren
       Listen mit Politikern vorbereitet, die verhaftet werden sollten.
       
       Damals arbeitete ich bei der Nesawissimaja Gaseta, die nur wenige Minuten
       vom KGB-Gebäude an der Lubjanka entfernt lag – und entlang der ganzen
       Straße bis zu den Türen unserer Redaktion standen Schützenpanzer.
       
       Diese Tage verbrachte ich zwischen der Redaktion und dem Weißen Haus, wo
       sich mit Boris Jelzin, dem eben gewählten Präsidenten der Russischen
       Föderation, das Zentrum des Widerstands bildete und wohin Tausende von
       Menschen strömten, um es zu verteidigen. Gleichzeitig beantwortete ich die
       Anrufe westlicher Medien, die verstehen wollten, was geschah.
       
       Einmal zog an mir eine Prozession vorbei – man trug eine 200 Meter lange
       russische Trikolore zum Weißen Haus. Schnell wurde klar, dass der Putsch
       zur Farce wurde: Seine Organisatoren hatten Angst. Auf einer
       Pressekonferenz, die im Fernsehen übertragen wurde, wanderten ihre Blicke
       nervös umher – und auf die Frage einer jungen Journalistin: „Verstehen Sie,
       dass Sie gerade einen Staatsstreich begangen haben?“ wussten sie kaum eine
       Antwort.
       
       ## Trikolore über dem Kreml
       
       Zwar hatte es den Befehl gegeben, Truppen nach Moskau zu verlegen, doch die
       Armeeeinheiten zögerten offensichtlich und griffen nicht ein. Abgeordnete
       und Aktivisten versuchten, die Soldaten zu überzeugen, nicht auf friedliche
       Menschen zu schießen und den Putsch nicht zu unterstützen. Die Menge der
       Verteidiger des Weißen Hauses wuchs, und der Putsch brach offensichtlich
       zusammen.
       
       Am 21. August kehrten Gorbatschow und Raissa von der Krim zurück. Die
       Trikolore wehte über dem Kreml, das Dserschinski-Denkmal wurde gestürzt.
       Die Putschisten wurden verhaftet, aber schnell begnadigt. Im Dezember wurde
       das Abkommen über die Auflösung der UdSSR unterzeichnet – und Gorbatschow
       wurde Präsident eines nicht mehr existierenden Staates.
       
       Damals konnte man sich nicht vorstellen, dass bald der Tschetschenienkrieg
       entfesselt würde, dass der Zerfall des sowjetischen Imperiums als Folge
       einer Verschwörung gelten sollte, dass Jahre später ein blutiger Krieg
       gegen die Ukraine begonnen würde, dass die Trikolore zum Symbol von Putins
       Russland werden sollte, dass viele Verteidiger des Weißen Hauses ins Exil
       gehen, von Putin ermordet oder ins Gefängnis gebracht würden – und dass
       jene Tage zur Erinnerung an verpasste Chancen Russlands werden sollten.
       
       2 Sep 2025
       
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   DIR Irina Scherbakowa
       
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