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       # taz.de -- Tugend-Posting auf Social Media: Aktivismus ist Handarbeit
       
       > Was machen wir eigentlich, wenn wir auf Instagram Haltung zeigen? Und vor
       > allem: Für wen machen wir das? Es geht um Reichweite – aber nicht nur.
       
   IMG Bild: Eine Alternative zur virtuellen Ohnmacht? Schild bei der Demonstration „Aufstand der Anständigen“, Berlin, 02. 02. 2025
       
       Im Sommer 2020 verwandelte sich mein Instagram-Feed für einen Tag in ein
       Meer schwarzer Quadrate – auch ich war kurz davor, eins zu posten. Unter
       dem Hashtag [1][#BlackoutTuesday] zeigten Millionen Nutzer:innen ihre
       Solidarität mit der „Black Lives Matter“-Bewegung. Doch ausgerechnet damit
       blockierten sie gleichzeitig die Informationskanäle, über die
       Aktivist:innen heutzutage Demos, Spendenaufrufe und Hilfsangebote
       koordinieren.
       
       Fünf Jahre später quellen die Timelines über vor Karussell-Posts,
       Sharepics und Aktivismus in Trendfarben. Während im Gazastreifen Hunger
       herrscht, demonstrieren Millionen virtuell ihre Haltung. Likes und
       Story-Shares gelten als moralische Währung, während die Menschen vor Ort
       davon keinen einzigen Bissen abbekommen.
       
       Dieses Tugend-Posting wird auch „virtue signaling“ genannt. Ein Klick, und
       schon zeigt der Feed Haltung. Man heftet sich damit ein moralisches
       Abzeichen an die Brust, das vor allem nach innen glänzt: Es fühlt sich wie
       ein aktiver Schritt auf die richtige Seite an, ohne dabei etwas zu
       riskieren. Statt echten Einsatz zu leisten, inszenieren wir uns als Teil
       einer Bewegung, jedoch ohne Konsequenz.
       
       Mal ehrlich: Wenn wir keine Promis oder Creator:innen mit Reichweite
       sind – für wen posten wir unsere Betroffenheit auf unseren kleinen,
       unscheinbaren Social-Media-Accounts? Rütteln wir damit unseren
       Freundeskreis wirklich wach oder holen sie unter ihrem ignoranten Stein
       bevor? Die meisten sehen täglich Dutzende solcher Shares. Doch was folgt
       daraus? [2][Aufmerksamkeit – und dann?]
       
       ## Alle W-Fragen beantwortet
       
       Mag sein, dass meine wenig politisierte Schulfreundin noch nichts von der
       Demo gegen rechts weiß. Mit einem Sharepic in meiner Story beantworte ich
       ihr ungefragt alle W-Fragen: Ort, Datum, Uhrzeit, Zweck. Im besten Fall
       kommen dadurch ein paar Leute mehr, vielleicht entsteht sogar ein erstes
       politisches Bewusstsein. Das ist die Stärke von Social Media: Reichweite,
       Sichtbarkeit, das Gefühl, nicht allein zu sein.
       
       Doch alles, was darüber hinausgeht, streichelt nur unser Gewissen. Für die
       Menschen, auf die wir aufmerksam machen wollen, wird unser Mitgefühl erst
       relevant, wenn der Aktivismus den Bildschirm verlässt: bei einer Demo,
       einer Spende, bewussterem Konsum oder einem Ehrenamt. Das wäre die echte
       Alternative zur virtuellen Ohnmacht.
       
       Klar, nicht jede:r hat Zeit für Verpflichtungen – aber auf Moral im
       Quadrat kann sich jede:r ausruhen. In Deutschland ist das harmlos,
       anderswo kann politisches Posten schon riskant sein.
       
       Hierzulande sind manche dafür umso eifriger, anderen das Schweigen
       vorzuhalten. Als ich im Juni beruflich und privat in Israel war,
       überraschte uns der Angriff Israels auf den Iran. Stundenlang saßen mein
       Freund und ich mit seiner israelischen Familie in Schutzräumen, während
       iranische Raketen einschlugen. Krieg hatte ich bis dahin nie erlebt. Alles
       war neu und beängstigend. Um Freunde und Familie auf einmal zu beruhigen,
       postete ich ein Foto der Nichte meines Freundes: frisch geduscht,
       bettfertig, mit Kopfhörern, wie sie im Schutzraum eine Serie schaut.
       Harmlos, dachte ich.
       
       Doch eine Followerin fand es scheinheilig: Kinder in Gaza hätten kein
       Essen, kein Wasser, keine Schutzräume – wie heuchlerisch von mir, über
       meine eigene Situation zu posten, wo ich doch privilegiert geschützt sei.
       
       ## Druck, das „Richtige“ zu posten
       
       Natürlich widerspricht meine eigene Angst nicht meinem Mitgefühl für
       Palästinenser:innen, aber ich habe das öffentlich nicht gezeigt – das war
       mein Fehler. Nur sitzt sie in einem sicheren europäischen Zuhause und
       erklärt mir als Betroffene, ich sei scheinheilig. Nach heutiger Logik
       bekommt sie aber das moralische Abzeichen – und ich gehe leer aus.
       
       Ich selbst teile bewusst keine politischen Inhalte auf meinem Account und
       vermisse nichts. Doch viele spüren scheinbar den Druck, zu jedem Konflikt
       das „Richtige“ zu posten. Wer denkt dabei noch an die Hungersnot im Sudan,
       wo schon vor der Eskalation Millionen Kinder mangelernährt waren? Wenn wir
       jetzt alle dazu posten, versinkt auch dieser Aktivismus im Rauschen.
       
       Denn wir sind keine „One-Person-Amnesty-Internationals“, die mit unseren
       mickrigen Accounts etwas bewirken könnten. Das schaffen nicht mal die
       [3][offenen Briefe von 367 Prominenten]. Am Ende signalisieren wir nur,
       dass wir noch etwas fühlen – und deswegen die Guten sind. So wird aus
       Haltung eine Pose.
       
       2 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Protest-Trends-auf-Instagram/!5700402
   DIR [2] /Migration-auf-Social-Media/!5824671
   DIR [3] /Promi-Unterschriften-fuer-Gaza/!6102592
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Clara Nack
       
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