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       # taz.de -- Kurdisch-Deutsche Regisseurin: Im Theater ist alles möglich
       
       > In Diyarbakır hat Mizgin Bilmen „Jîn – Jinên Azad“ inszeniert. Es ist ein
       > radikal-poetisches Stück über Widerstand und Stärke kurdischer Frauen.
       
   IMG Bild: Jeder Stein trägt in Mizgin Bilmens Stück eine Bedeutung, er ist Waffe, Schutz, Last und Speicher von Geschichte
       
       Noch vor wenigen Tagen saß Mizgin Bilmen hier bei den Proben, ganz vorne im
       roten Samtsessel des Stadttheaters Diyarbakır. Mit wachem Blick verfolgt
       sie das Geschehen auf der Bühne, nickt, springt auf, geht nach vorne, setzt
       sich zwischen die Schauspielerinnen oder steigt selbst auf die Bretter. Sie
       ist keine Regisseurin, die sich distanziert an den Rand zurückzieht.
       „Theater ist ein Prozess“, sagt sie. Und in diesem Prozess ist sie nicht
       Beobachterin, sondern Teil.
       
       Seit dem 1. September ist „Jîn– Jinên Azad“ („Die Frauen der Freiheit“) nun
       auf dieser Bühne zu sehen. Diyarbakır, von den Kurden Amed genannt, liegt
       im Südosten der Türkei. Für Bilmen ist es mehr als ein Aufführungsort. Es
       ist ein Raum, in dem Sprache und Körper Widerstand werden dürfen, ein Ort,
       an dem [1][das Kurdische,] so lange verdrängt und kriminalisiert, auf einer
       Bühne lebendig wird.
       
       Dabei begegnen den Zuschauerinnen und Zuschauern sieben Frauen, die ihre
       Körper, ihre Stimmen, ihre Erinnerungen in ein gemeinsames Ritual
       verwandeln. Steine werden getragen, gestapelt, fallen gelassen – sie sind
       Last und Waffe zugleich, Zeichen für Widerstand und für Erinnerung.
       
       Zwischen Gesang, Sprechchören und Tanz entstehen Bilder von Stärke, Trauer
       und Aufbegehren. Die Performerinnen zitieren Stimmen der kurdischen
       Geschichte, die Worte [2][Leyla Zanas], der ersten kurdischen Politikerin,
       die im türkischen Parlament war und 1995 aus dem Gefängnis an ihre Kinder
       schrieb, oder die Newroz-Botschaft Abdullah Öcalans von 2013.
       
       „Jîn – Jinên Azad“ erzählt nicht linear, sondern in Atmosphären. Es ist ein
       Strom von Bewegungen, Schreien, Liedern, Unterbrechungen. Mal tanzen die
       Frauen im Kreis, verlieren den Rhythmus und finden ihn wieder, mal brechen
       sie in kollektive Gesten aus, mal sprechen sie klar und laut, dann wieder
       flüsternd, fast unsichtbar. Die Choreografie von Berivan Sevgat verbindet
       kurdische Folklore mit zeitgenössischer Körperarbeit, beeinflusst von
       [3][Pina Bausch].
       
       Tochter eines Gastarbeiters 
       
       Im Jahr 1983 in Duisburg geboren, wuchs Bilmen in einer Familie auf, die
       vom Migrationsversprechen der 1970er geprägt war. Der Vater kam als
       Gastarbeiter nach Deutschland, eigentlich mit dem Plan, irgendwann
       zurückzukehren. Doch er blieb, so wie viele auch.
       
       Bilmen wächst zwischen zwei Welten auf: Kurdisch zu Hause, Deutsch auf der
       Straße. An die Sommerreisen nach Kurdistan erinnert sie sich bis heute.
       Noch bevor es in Diyarbakır einen Flughafen gab, fuhren sie zwei Tage mit
       dem Bus von Istanbul nach Mardin.
       
       Es gab immer eine unsichtbare Grenze innerhalb der Türkei, ab einem
       gewissen Punkt war man nicht sicher. Irgendwann kam auf dieser Strecke
       immer der Satz ihrer Mutter: „Ab jetzt redet ihr nur noch Deutsch.“ Für
       Bilmen wurde Kurdisch so zur verbotenen Sprache – kriminalisiert schon im
       Akt, sie überhaupt zu sprechen. „Das war eines der größten Materialien, um
       Künstlerin zu werden“, sagt sie.
       
       Politische Themen verarbeiten 
       
       Bilmen erzählt, dass sie erst spät den Weg zur Regie fand – eigentlich
       hatte sie zunächst Lehramt studiert. Doch das Theater zog sie immer stärker
       an, nicht zuletzt durch ihre eigenen Erfahrungen, durch die Fragen und die
       Wut, die sie in sich trug. Wie konnte sie all das verarbeiten – die
       politischen Themen, den Wunsch nach Widerstand aus der Diaspora heraus?
       
       Auf der Suche nach einem Ort für diese Gefühle erkannte sie, dass gerade
       das Theater diesen Raum bietet: einen geschützten Ort, in dem alles möglich
       ist. „Auf der Bühne“, sagt sie, „kann man alles sein – und zugleich
       nichts.“ Während sie das ausspricht, nickt sie leicht, als bestätige sie
       sich selbst noch einmal.
       
       Dann konzentriert sie sich wieder auf das Geschehen auf der Bühne und
       unterbricht das Spiel. Mit fester Stimme ruft sie auf Kurdisch: „Gelekî
       spas!“ – „Vielen Dank.“ Für einen Moment hält alles inne. Die
       Schauspielerinnen schauen irritiert, senken die Köpfe, verlassen zögerlich
       die Bühne.
       
       Bilmen selbst aber tritt nach vorne, schiebt sich in den leeren Raum,
       bewegt sich, zeigt, was sie meint. Sie erklärt nicht mit Worten, sondern
       mit Gesten, mit Rhythmus, mit Haltung. In diesem Moment wirkt sie streng,
       fast unnachgiebig – doch hinter der Strenge liegt ein Impuls, der zutiefst
       einladend ist: der Wunsch, gemeinsam eine Sprache auf der Bühne zu finden,
       die nicht nur gesprochen, sondern gelebt wird.
       
       Erfahrungen in Dortmund und Darmstadt 
       
       Doch so leicht, wie Bilmen heute über ihre Arbeit spricht, war ihr Weg
       nicht immer. Rückschläge habe es viele gegeben, sagt sie, und ihre Stimme
       wird leiser, fast gesenkt, als sie von ihrer Erfahrung in Dortmund erzählt.
       Theater – das könne im besten Fall Räume öffnen, dort aber, erinnert sie
       sich, habe es das Gegenteil getan. „Das war für mich künstlerisch ein
       traumatisches Erlebnis“, sagt sie. „Es wurden Denkverbote ausgesprochen,
       und das unter dem Deckmantel von Feminismus und progressivem Gedankengut.“
       
       Für Bilmen war das ernüchternd. Sie zieht einen drastischen Vergleich: „Es
       erinnert mich an [4][Beyoncé] – eine Frau, die für ihre Community als
       Symbolfigur gilt, während sie gleichzeitig ihre Tänzerinnen ausbeutet.“ Sie
       weiß, dass nicht jeder das gut finden wird. Trotzdem sagt sie es, fast
       beiläufig und spricht weiter: „Alle begnügen sich damit, dass ‚Feminist‘
       auf der Bühne steht. In Dortmund war es ähnlich – nur mit weniger Talent
       und noch weniger Humor.“
       
       Sie hält inne, bevor sie von einer weiteren Station erzählt – Darmstadt.
       Dort sei es das genaue Gegenteil gewesen: keine Denkverbote, sondern eine
       andere Form von Einschränkung. „Kunst wird dort verwaltet wie in einem
       Stempelkartensystem. Man muss sich für seine Arbeit rechtfertigen, nicht
       weil sie schlecht ist, sondern weil man nicht aus einer privilegierten
       Blase stammt. Auch das ist eine Form von Zensur.“
       
       Hospitanz bei Roberto Ciulli 
       
       Und dennoch: Auch wenn manche Erfahrungen sie für zwei Jahre vom Theater
       fernhielten, war ihr politischer Wille stärker. Er trug sie zurück auf die
       Bühne – inspiriert von den Stimmen, die sie bis heute begleiten. Ihre erste
       prägende Erfahrung machte sie während einer Hospitanz bei [5][Roberto
       Ciulli am Theater an der Ruhr]. Dort begriff sie, wie Theater inklusiv
       gedacht werden kann – nicht als pädagogisches Projekt, sondern als Raum,
       der Menschen auf Augenhöhe zusammenführt.
       
       Von Heiner Müller lernte sie, das Politische des eigenen Lebens zum
       künstlerischen Material zu machen. Von Pina Bausch übernahm sie die
       Haltung: „Es geht nicht darum, wie man sich bewegt, sondern was einen
       bewegt.“
       
       Jürgen Gosch, dessen Arbeiten sie studierte, und Frank Castorf mit seinen
       wilden Volksbühnenabenden zeigten ihr, dass Theater Menschen unmittelbar
       berühren kann – ganz gleich, ob sie Vorwissen mitbringen oder nicht.
       
       Aus all diesen Begegnungen, aus all diesen Stimmen hat Mizgin Bilmen ihre
       eigene Sprache destilliert: Es ist eine Regiehandschrift, die analytisch
       ist und zugleich von Leidenschaft vibriert, die kompromisslos nach vorne
       drängt und dabei immer den Körper mitdenkt. Eine Handschrift, die nicht
       theoretisch bleibt, sondern nach Ausdruck auf der Bühne verlangt. Aus
       Verletzungen wurde Haltung, aus Begegnungen eine Sprache, die den Körper
       ebenso ernst nimmt wie das Wort.
       
       Hommage an die Frauen 
       
       „Jîn – Jinên Azad“ ist für sie deshalb weit mehr als eine Inszenierung. Es
       ist ein Manifest – und zugleich eine Hommage an die Frauen in der
       kurdischen Gesellschaft, die gelernt haben, sich selbst zu ermächtigen,
       nicht Opfer ihrer Biografie oder einer politischen Lage zu bleiben, sondern
       aufzustehen, Widerstand zu leisten, selbstbestimmt zu sein.
       
       „Für mich war es wichtig zu zeigen, dass diese Frauen nicht auf ihre Wunden
       reduziert sind“, sagt Bilmen. „Sie können tanzen, sie können lachen, sie
       können kämpfen – und sie bestimmen selbst, welche Geschichte erzählt wird.“
       
       Eines der Bilder, das Bilmen seit Jahren begleitet, ist die Aufforderung
       des [6][Dramaturgen Carl Hegemann]: „Erobert euer Grab!“ Für sie war das
       zunächst eine Frage nach künstlerischer Selbstermächtigung. Heute bedeutet
       es mehr. „Wenn ich sage, wir erobern das Grab, dann meine ich: Wir nehmen
       uns unsere Geschichte zurück“, sagt sie. „Wir trauern nicht nur, wir holen
       uns das Leben zurück – im Tanz, in der Kunst, im Aufbegehren.“
       
       Kurdisch auf der Bühne 
       
       Für Mizgin Bilmen bedeutet es eine besondere Rückkehr, dieses Stück hier zu
       zeigen – im Stadttheater, im Herzen des kurdischen Südostens, auf einer
       Bühne, auf der ihre Muttersprache bislang kaum selbstverständlich war.
       „Diese Sprache im öffentlichen Raum und dann auch noch in Kombination mit
       Kunst zu verwenden, ist schon ein großer Akt des Widerstands“, sagt sie.
       
       Es ist ein Satz, der ihre Arbeit bündelt: Sprache als Waffe, Körper als
       Resonanzraum, Theater als Ort der Selbstermächtigung. Und ihr Wunsch für
       die Zukunft und das Stück? Da gibt sie die Hoffnung nicht auf, sagt sie.
       Nimmt sich eine Zigarette aus der Packung zündet sie an, und einen Schluck
       von ihrem Getränk – Mischung aus Bier und Fanta. „Ich habe eine Vorliebe
       für Alkopops“, erwähnt sie nebenbei und lacht.
       
       Für Bilmen ist es wichtig, auf der Bühne kämpferisch und zugleich
       verletzlich zu sein, und „Theater“, sagt sie, „ist ein Ort, an dem wir uns
       die Freiheit vorstellen können, die wir draußen nicht haben“. Und während
       sie sich in Diyarbakır – in Amed – mit „Jîn – Jinên Azad“ auf die Stimmen
       der Frauen einlässt, bleibt dieser Satz wie ein Versprechen im Raum: dass
       Kunst nicht nur Abbild, sondern eine Waffe der Hoffnung ist.
       
       3 Sep 2025
       
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