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       # taz.de -- Dialog der Skulpturen: Verletzliche Wesen, gnädig verhüllt
       
       > Die Parallele ist der Schleier: Die Künstlerin Berlinde de Bruyckere
       > führt in Hamburgs Ernst-Barlach-Haus einen packenden Dialog mit dessen
       > Werken.
       
   IMG Bild: Gelebtes Leben, zum Gitter geronnen: Installation aus alten Decken, ohne Titel, von 1995
       
       Hamburg taz | Eine Tierhaut hängt wie ein abgelegter Mantel an der Wand,
       eine andere scheint als übermächtiger Unterschlupf zu dienen, aus dem nur
       noch zwei menschliche Beine hervorschauen. „Liegender Erzengel“ nennt
       [1][die belgische Künstlerin Berlinde de Bruyckere] die Skulptur mit der
       verborgenen Figur. Der gefallene Engel mag Schutz suchen oder wird von
       machtvolleren irdischen Energien verschlungen.
       
       So wie die 1964 geborene Künstlerin die Formen verhüllt, verbirgt sie auch
       zu klare Eindeutigkeiten. Es muss ein Geheimnis bleiben um die
       menschlichen, weniger himmlischen Grenzerfahrungen. So steht die aktuelle
       [2][Ausstellung im Hamburger Ernst-Barlach-Haus] unter dem Motto einer
       Gedichtzeile des englischen Romantikers und Gesellschaftskritikers Percy
       Bysshe Shelley (1792–1822): „Heb nicht den bemalten Schleier, den, die
       leben, das Leben nennen …“
       
       Der schützende Schleier legt sich über Verletzlichkeit und Vergänglichkeit,
       er kleidet noch den toten Körper und überlässt die Heilung der Hoffnung.
       Die Skulpturen de Bruyckeres künden von universellen Bedingungen des
       Menschseins, samt Gewalt und unvermeidlichem Ende. Die zeitlose Gültigkeit
       steigert im Verzicht auf einen individualisierten Ausdruck auch, dass der
       Kopf stets verborgen ist.
       
       Fremdes, bereits gelebtes Leben steckt zudem, schon bevor die Künstlerin
       ihnen eine neue Bedeutung gibt, in den oft von ihr benutzten alten Decken.
       Eine solche Figur aus einer bunten Decke mit drei eisernen Beinen, eine
       seltsame Wesenheit von 1993, steht wie ein Wächter im gläsernen Innenhof
       des Gebäudes.
       
       Körperbetonende Faltenwürfe und Gewandstudien sind seit der Antike ein
       Thema der Kunst, der sterbliche, geschundene und tote Körper in aller
       Fleischlichkeit spielt in der christlichen Bildwelt eine zentrale Rolle –
       samt Verweis auf brüderliches Mitleid, einer unterschwelligen Erotik und
       der gläubigen Erwartung der Auferstehung.
       
       ## Eine Skultpur provozierte Polizeieinsatz
       
       Der kunsthistorisch versierten Künstlerin ist das alles bewusst. Da bedarf
       es kaum des biografischen Hinweises, dass Berlinde de Bruyckere auf einer
       katholischen Schule war und die Eltern eine Metzgerei hatten. Jedenfalls
       entfalten sich mit der fahlen Farbigkeit des Körperlichen in ihrem Werk
       mitunter Wirkungen nicht unähnlich der religiösen Kunst des spanischen
       Barock.
       
       So allgemeingültig die Aussage, so realistisch das Aussehen: Das malerisch
       bearbeitete Wachs, das sie für die Körperformen verwendet, macht einen so
       weitgehend natürlichen Eindruck, dass eine im Wasser platzierte
       Außenskulptur als vermeintliche Leiche in ihrer Heimatstadt Gent sogar
       einen Polizeieinsatz provozierte – wobei der Bergungsversuch leider die
       Arbeit zerstörte.
       
       Mehrfach stellte die international gewürdigte Künstlerin auf der Biennale
       in Venedig aus, 2013 war ihr der belgische Pavillon gewidmet. Ein mit
       Wachs, Eisen, Decken und Epoxidharz bearbeitetes Naturholz aus der
       damaligen Schau ist jetzt auch in Hamburg zu sehen. Denn de Bruyckere
       verwendet nicht nur oft Holz für Skulpturen, für sie sind manche alten
       Bäume selbst schon gewachsene Skulpturen – samt anthropomorphen Strukturen
       und heilungsbedürftigen Wunden.
       
       Aktuell läuft in Brüssel eine Retrospektive für sie im Kunstzentrum
       [3][„Bozar]“. Und inmitten der alten Meister in der Hamburger Kunsthalle
       steht ihre Skulptur „Arcangelo II“ als weitgehend verhüllte Personifikation
       zwischen allen denkbaren Welten seit 2021. In dem Jahr besuchte
       [4][Berlinde de Bruyckere] auch das Ernst-Barlach-Haus, fand Anregungen und
       entdeckte Gemeinsamkeiten, so in den auch bei [5][Barlach] oft verwendeten
       Verschleierungen seiner Figuren.
       
       ## Kunst tritt in Dialog
       
       Ein besonderes Ergebnis dieses Kontakts ist eine jetzt erstmals gezeigte,
       neueste Skulptur: Auf einem Katafalk aus gebrauchtem Linoleum liegt ein
       Stück wachsgetränkten, marmorhaft leichenfarbig bemalten Stoffs, das die
       Konturen eines Körpers darunter nachzeichnet. Hier dominiert zweifelsfrei
       der Tod, und neben aller Kunstgeschichte drängen sich Medienbilder aus den
       aktuellen Kriegen auf. Doch anders als bei schamlosen Fotos erlaubt eine
       Skulptur genaues, faszinierte Betrachten und gibt gleichwohl zu denken.
       
       Um im festen, aber begrenzten Bestand eines Personalmuseums stets frische
       Aspekte aufzuzeigen, lädt Direktor Karsten Müller immer wieder
       Künstlerinnen und Künstler ein, mit ausgewählten Werken von Barlach in
       Dialog zu treten. Nicht nur, wenn jetzt Barlachs „Verhüllte Bettlerin“ von
       1919 im direkten Vergleich zu einer Schleier-Zeichnung von Berlinde de
       Bruyckere tritt – und besonderes Augenmerk auf den Falten der Rückseite von
       Barlachs Holzfigur liegt –, ist die inspirierende Konfrontation diesmal so
       gut gelungen wie selten.
       
       7 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://blogs.taz.de/fkk/eine-fantastische-moderne-bildhauerin/
   DIR [2] /Ausstellung-im-Ernst-Barlach-Haus/!5034628
   DIR [3] /Die-Kunst-von-James-Ensor-aus-Ostende/!5981923
   DIR [4] /Kiki-Smith-in-Muenchen-und-Freising/!5969928
   DIR [5] /Ausstellung-Nie-wieder-Krieg/!6016066
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hajo Schiff
       
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       aber die Bilder lohnen den Besuch