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       # taz.de -- Van Morrison zum 80. Geburtstag: Warum kann Kontemplation nicht immer so sein?
       
       > Auf Spurensuche in Van Morrisons mythischem Nordirland. Dessen schroffe
       > Küstenlandschaft taucht oft in den Texten des legendären Folksängers auf.
       
   IMG Bild: Begnadeter Sänger, spiritueller Songtexter: Van „the Man“ Morrison beim Festival im Schweizerischen Montreux, 2022
       
       Ein Autoradio gibt es nicht in dem alten Vauxhall, mit dem Al Bodkin seinen
       einzigen Kunden abholt – Sonntag morgens um neun, als Belfast noch schläft.
       Aber sobald wir auf der Landstraße Richtung Süden unterwegs sind, immer nah
       an der Küste der Grafschaft Down, fummelt er hinterm Steuer an seinem Handy
       herum: Ein vierschrötiger Endsechziger mit Lesebrille und silberweißem
       Bart, der mit der Technik kämpft.
       
       Bis wir den Song und seinen Text, der diese Landschaft besingt, laut und
       deutlich hören. „Coming back from Downpatrick stopping off at St. John’s
       Point / Out all day birdwatching and the craic was good …“
       
       Auf der Coney Island Tour in Nordirland fährt man eben nicht nur durch eine
       Region, sondern auch einen besonderen Song hindurch. Er trägt denselben
       Namen und findet sich auf dem 1989 erschienenen Soloalbum „Avalon Sunset“
       von Van Morrison.
       
       ## Guide aus Leidenschaft
       
       Darin werden sieben Orte erwähnt, die man in dieser Reihenfolge kaum
       passieren kann. Aber dafür gibt es ja Al Bodkin. Der Guide aus Leidenschaft
       steuert sie in den nächsten fünf, sechs Stunden so an, dass es einen Sinn
       ergibt. Und das gleich in doppelter Hinsicht.
       
       Denn wer die 50 Kilometer bis St. John’s Point an der Spitze der Halbinsel
       Lecale zurücklegt, windet sich in die Echoräume einer singulären
       Musikerbiografie hinein. Genau hier hat der Urheber von 45 Studioalben, der
       am 31. August 2025 80 Jahre alt wird, immer wieder eine Auszeit genommen.
       Erst als Schüler aus Bloomfield, einem Viertel in East Belfast, der ab und
       zu bessere Luft atmen sollte, sowie später als weltweit gefeierter
       Singer-Songwriter, [1][dessen voluminöse Stimme jede Musik zum Vibrieren
       bring]t.
       
       Blues und Rock, Jazz und Soul, Country und Folk, Gospel und Skiffle: „Van
       the Man“ hat so viele Stile der populären Musik in seiner Kehle fusionieren
       lassen. Überzeugte als Sänger der legendären Rhythm-and-Blues-Formation
       Them (1965–67) wie Jahrzehnte später bei Auftritten mit der Irish-Folk-Band
       The Chieftains; legte mit „Astral Weeks“ (1968), „Moondance“ (1970), oder
       „The Healing Game“ (1997) kultisch verehrte Soloalben vor; und tauchte in
       kritischen Phasen immer mal ab – in Boston und in Kalifornien, in Woodstock
       und in New York.
       
       ## Lieber Poetik als Politik
       
       Wenn er sich überhaupt mal interviewen ließ, sprach Morrison lieber über
       Poetik als Politik. Denn die Troubles, die Unruhen in Nordirland, waren ihm
       ein ähnliches Gräuel wie die Mechanismen der Musikindustrie. Oder
       Journalisten, die Fragen zu zwei gescheiterten Ehen oder sonstige Details
       aus seinem Privatleben stellen.
       
       Und doch ist diese Tour von Al Bodkin jetzt ziemlich intim: Sie führt in
       einen Hinterhof, wo Van Morrison häufiger kurzfristig anberaumte Konzerte
       gibt. Das weiß Al schon deshalb, weil er in der Regel dabei ist. Bis heute
       hat der verrentete Angestellte der britischen Armee nach eigener Zählung
       mehr als 150 Gigs seines Helden erlebt, sowie alle Tonträger inklusive des
       neuesten Albums („Remembering Now“), relevante Bücher und Artikel über den
       Star gesammelt. Er weiß im Zweifel mehr über den Meister als dieser selbst
       und genießt es, andere für eine auszuhandelnde Pauschale auf dessen Spuren
       zu führen.
       
       „Drove through Shrigley taking pictures and on to Killyleagh …“ Also auf
       zum erwähnten Kaff Shrigley und einem über 150 Jahre alten, grün
       überwucherten Belltower am Straßenrand: Letztes Relikt einer längst
       geschlossenen Spinnerei, in der einst bis zu 500 Beschäftigte arbeiteten.
       Die Industrieruine sollte unbedingt erhalten bleiben, wofür Van wohl vor
       Jahren plädiert hat, schon weil sie an die große Zeit der Textilindustrie
       in Down erinnere. „Und er spendet für solche Zwecke gerne Geld, auch wenn
       ihn andere für geizig halten.“
       
       ## Zu Gast auf Killyleagh Castle
       
       Gleich darauf Killyleagh Castle, Nordirlands größte und älteste noch
       bewohnte Burg. Einige Teile gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Die
       Torloggias werden heute als Ferienwohnungen vermietet, und im Vorhof ist
       Van mit Band auf Einladung der Besitzer, den Hamiltons, schon an lauen
       Sommerabenden aufgetreten. Ähnlich wie sich der Local Hero auch von den
       Eigentümern des Europa Hotel in Belfast nie lange bitten lässt, um dort mit
       kleiner Besetzung zur Matinee aufzuspielen.
       
       Wurde der noble Kasten [2][während der Troubles] nicht als
       „meistbombardiertes Hotel der Welt“ bezeichnet? Bitte nicht daran erinnern,
       gibt Al zu verstehen, und nimmt Kurs auf Downpatrick. Die beschauliche,
       unauffällige Kleinstadt am Quoile River zieht Gläubige aus nah und fern an,
       weil neben der Kathedrale die Gebeine des irisch-katholischen
       Schutzheiligen Saint Patrick liegen sollen. Das ist zwar nicht erwiesen,
       lockt aber auch heute wieder mehrere Touristinnen an die Grabstelle. Sie
       murmeln Gebete in spanischer Sprache.
       
       In den Texten von Van Morrison schwingt Spiritualität dagegen überall mit.
       Sie kennt „No Guru, No Method, No Teacher“, um den Titel eines anderen
       Albums (1986) zu bemühen, und wird vornehmlich von der Natur inspiriert.
       Die nimmt am Strangford Lough, einem riesigen Naturhafen nahe der Irischen
       See, phasenweise entrückte Züge an. Schlickige Ufer glänzen in milchigem
       Licht. Fliehende Wolken ziehen über dunkle Wälder hinweg. Dazwischen Ruinen
       aus den fernen Zeiten der Wikinger und Normannen.
       
       ## Ruderboote startklar machen
       
       Am Kai von Strangford machen Männer und Frauen vom örtlichen Coastal Rowing
       Club gerade zwei Boote klar. Die Fahrt nach Portaferry, auf die andere
       Seite des Sees, ist das beste Training fürs alljährliche Duell zwischen den
       Orten, erklärt eine der Ruderinnen. Uns zieht es jedoch weiter nach
       Ardglass – den historischen, längst gentrifizierten Küstenort mit dem
       Fischereihafen, dessen Delikatessen im Song empfohlen werden. „Stop off at
       Ardglass for a couple of jars of mussels / And some potted herrings in case
       we get famished before dinner …“
       
       „Du ahnst nicht, wie viele edle Seafood-Restaurants es in diesem kleinen
       Ort gibt“, sagt Al. Für einen kurzen Lunch steuern wir jedoch lieber das
       Village Kitchen beim Yachthafen an. Hier werden die kleinen Dinge richtig
       gemacht, wie eine Belfaster Zeitung geschrieben hat. Und was geht über
       einen Teller mit Sausage und Bacon, Eggs und Fries, die man zum Sound von
       gemächlich an Holzbohlen plätscherndem Wasser verschlingt?
       
       Dann verlassen wir die A 2 und kämpfen uns über schmale Straßen, die Al
       „interesting“ findet. Bis ein dezentes Schild mit dem Hinweis „Coney
       Island“ erscheint. Hier biegen wir ab und stehen einen Moment später am
       Strand einer kleinen, sichelförmigen Bucht. Sie ist der Star des Songs und
       steht für eine bescheidene Portion Glück: Bis dahin, zur ersten Welle,
       schaffen es auch Leute aus der Umgebung, denen Zeit oder Geld für
       „richtigen“ Urlaub fehlt. Wie der Mann und die Frau mit den drei Kindern,
       die gerade über den Strand flitzen.
       
       ## Steppke in gestrickter Badehose
       
       Darf man sich George Ivan Morrison also als Steppke in gestrickter Badehose
       vorstellen, den der Elektriker George Morrison und seine Frau Violet, eine
       Jazzsängerin, an hellen Sonntagen im Auto mitnahmen? Oder wurde dieser
       Strand ohne Umkleiden erst für den Youngster ein Ziel, der Bluesplatten
       sammelte und mit Lokalbands auftrat? Das weiß selbst sein hartnäckigster
       Fan nicht so genau. Dafür kann Al den Namen des Standorts erklären: „Coney“
       ist von coinín abgeleitet, dem gälischen Wort für Hase.
       
       Ansonsten sind weder der Rummel noch das „Wonder Wheel“ zu finden, die das
       berühmte Coney Island am Brighton Beach von Brooklyn/New York ausmachen.
       Diese Nische bleibt sich selbst überlassen. Gerade in Zeiten von
       Overtourism hat das jedoch seinen eigenen Charme.
       
       Zumal es im Song weniger um das Ankommen und Verweilen als um ein
       Sichtreibenlassen geht. Bis zu dem Punkt, wo sich ein kontemplatives
       Einverständnis, wenn nicht sogar Glück einstellt. „And all the time going
       to Coney Island I’m thinking / Wouldn’t it be great if it was like this all
       the time?“
       
       Zehn Minuten später erreichen wir am St. John’s Point die letzte Station
       der Tour, markiert durch den mit 40 Metern höchsten Leuchtturm der irischen
       Insel. Um ihn herum stellen sich wenige Häuser dem launischen Wind.
       
       Das ist eine gute Gelegenheit, über Wiesen und Klippen zu kraxeln. Und
       beiläufig anzusprechen, was einem schon lange auf der Seele brennt: Warum
       nimmt dieser eigenwillige Mensch, der seine Fans mit seiner unglaublichen
       Stimme so tief berührt, auf der Bühne so wenig bis gar keinen Kontakt mit
       ihnen auf?
       
       ## Absolute Konzentration
       
       „Ich glaube, Van braucht auf der Bühne einfach absolute Konzentration“,
       erwidert Al Bodkin. „Er will sich und die anderen Musiker perfekt
       synchronisieren. Das kommt am Ende auch dem Publikum zugute.“ Und seine
       ominöse Androhung während der Coronapandemie, gegen das Verbot von
       Livemusik in nordirischen Bars und Clubs vorzugehen? Sei mit Sicherheit von
       der Sorge um Musiker getrieben gewesen, die nicht so viel wie er verdienen.
       
       So gibt es wohl wenig bis gar nichts, was Al Bodkin, den treuesten
       „Vanatic“, als der er sich selbst bezeichnet, auf einen der größten Sänger
       seiner Zeit kommen ließe. Das sei ihm für diesmal zugestanden. Ist es nicht
       eine coole, ganz besondere Schleife gewesen? „On and on, over the hill and
       the craic is good.“
       
       21 Aug 2025
       
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