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       # taz.de -- Schau zu Chris Marker in Jerusalem: Es bleibt ein Kampf
       
       > Der Filmemacher Chris Marker reiste 1960 durch den jungen Staat Israel.
       > Das Israel-Museum in Jerusalem zeigt bisher unbekannte Fotografien von
       > damals.
       
   IMG Bild: Im Israel-Museum in Jerusalem sind die bisher unbekannten Fotos von Chris Marker aus dem Jahr 1960 zu sehen
       
       Berlin taz | Mehr als sechs Jahrzehnte nachdem der französische Filmemacher
       Chris Marker Israel bereiste, sind nun 120 seiner Fotografien im
       Israel-Museum in Jerusalem zu sehen. Die meisten davon wurden noch nie
       zuvor öffentlich gezeigt. Sie wurden 1960 aufgenommen und ursprünglich für
       Markers Dokumentarfilm „Description of a Struggle“ („Beschreibung eines
       Kampfes“) verwendet.
       
       Ein Film, der mit den damals typischen zionistischen Narrativen brach. Er
       stellte Israel nicht nur als Zufluchtsort für Juden dar, sondern als einen
       Ort, der von tiefen Spannungen geprägt war – zwischen Alt und Neu,
       Einheimischen und Einwanderern, Ideal und Realität.
       
       Markers Kamera zeigte, was in den offiziellen staatlichen Darstellungen oft
       ausgelassen wurde. Der Filmemacher war fasziniert von den ethischen
       Dilemmata und ideologischen Widersprüchen Israels. In seinem Film
       beobachtet er gewöhnliche Menschen im Alltag und persönliche Momente. In
       oft stillen Szenen fing er [1][die Komplexität, Paradoxien und frühen
       psychologischen Spannungen] einer Gesellschaft ein, die noch in der
       Entwicklung war.
       
       Der Film gewann 1961 den Goldenen Bären bei der Berlinale, etwa vier Jahre,
       bevor die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland
       überhaupt aufgenommen wurden. „Description of a Struggle“ und eine Auswahl
       seiner wiederentdeckten Standbilder stehen im Zentrum der großen
       Retrospektive „Chris Marker: The Lost Photographs of Israel“ im
       Israel-Museum, kuratiert von Gilad Reich und dem Künstler Shuka Glotman.
       
       Sie richtet einen prophetischen Blick auf ein Land im Entstehen – ein Land,
       das Marker als „Wunder“ bezeichnete. Und sie gibt Eindruck von einer
       vergangenen Zeit – Israel vor dem Sechstagekrieg von 1967.
       
       ## Ein Land in seiner existenziellen Unsicherheit
       
       1960 war Jerusalem eine geteilte Stadt – Westjerusalem stand unter
       israelischer Kontrolle, Ostjerusalem, einschließlich der Altstadt und der
       Klagemauer, wurde von Jordanien regiert. Die Grüne Linie markierte noch die
       Grenze zwischen Israel und Jordanien, das die Westbank kontrollierte,
       während Ägypten über den Gazastreifen herrschte.
       
       Marker filmte in einem Land, das mit seiner existenziellen Unsicherheit zu
       kämpfen hatte und noch nicht durch militärische Dominanz gestärkt war.
       Seine Kamera wanderte durch Westjerusalem, Tel Aviv, Haifa, verschiedene
       Kibbuzim und entstehende Städte im Negev. Er hielt neu angekommene jüdische
       Einwanderer, gebrochene Menschen, fröhliche Kinder und die
       [2][ultraorthodoxe Haredi-Gemeinde im Jerusalemer Viertel Me’a Sche’arim]
       fest.
       
       Er zeigt kurdische Juden, die in einem Durchgangslager tanzen, und
       Holocaustüberlebende, die eine emotionale Last mit sich tragen. Arabische
       Bürger Israels (der Begriff „Palästinenser“ war noch nicht geprägt, um ihre
       Identität zu beschreiben) tauchen in Straßenszenen auf, als Arbeiter oder
       als Kinder einer neuen Generation in einer sich wandelnden Welt.
       
       Kinder schauen aus Zelten der Ma’abarot, der Durchgangslager im Land,
       hervor, Arbeiter ernten Orangen auf Kollektivfarmen, Beduinen posieren an
       einer Bushaltestelle und Pilger beten an religiösen Stätten. Markers Kamera
       hält den Blick eines Dichters fest, der angezogen ist von Ambiguität,
       Trauer und Anmut.
       
       ## Vorgriff auf moralische Dilemmata
       
       Der Titel des Films, der aus Kafkas Kurzgeschichte „Beschreibung eines
       Kampfes“ stammt, spielt auf einen metaphysischen, inneren Konflikt an.
       Nicht einen Konflikt um Grenzen, sondern um Identität, Geschichte und
       Zukunft. Markers Voice-over-Kommentar im Film war dabei auf unheimliche
       Weise vorausschauend in Bezug auf die moralischen Dilemmata, die nur wenige
       Jahre später auftreten sollten: „Israel hat alle Formen des Kampfes
       kennengelernt. Heute offenbart es eine neue Art von Kampf – den Kampf, den
       ein junges und starkes Land gegen sich selbst führen muss, um auch im Sieg
       den Werten treu zu bleiben, die seinen Namen glorifizierten, als es noch
       verfolgt wurde.“
       
       Bis dahin waren Filme über Israel meist von der dortigen Regierung
       beauftragt worden. Marker sollte den ersten unabhängigen Film über das Land
       drehen. Die Gründerin der Jerusalem Cinematheque, Lia van Leer, und ihr
       Ehemann Wim van Leer, hatten Marker dazu eingeladen, nachdem sie seinen
       Film „Letter from Siberia“ auf dem Moskauer Filmfestival 1959 gesehen
       hatten. Sie boten Marker völlige künstlerische Freiheit. Marker willigte
       ein – aber erst nach einem einmonatigen, selbst finanzierten Besuch, um das
       Land zunächst nach seinen eigenen Vorstellungen beobachten zu können.
       
       Der Vertrag zwischen den van Leers und Marker, der Jahrzehnte später in
       Paris gefunden wurde, zeigt, wie viel Autonomie der französische
       Filmregisseur hatte. Er konnte jederzeit aussteigen, seinen Namen aus dem
       Film entfernen oder jeden inhaltlichen Eingriff ablehnen. Der Film wurde
       durch eine unabhängige Stiftung der van Leers finanziert und war damit
       eines der seltenen Beispiele für echtes Autorenfilmschaffen im frühen
       israelischen Kino.
       
       ## Israelische Flagge auf der Berlinale
       
       Als „Description of a Struggle“ 1961 den Goldenen Bären für den besten
       Dokumentarfilm gewann, wehte zum ersten Mal die israelische Flagge auf der
       Berlinale. Das sorgte international für Schlagzeilen. In Israel hingegen
       waren die Reaktionen eher verhalten, die Filmpremiere im Maxim Theater in
       Tel Aviv fiel mit [3][den ersten Wochen des Eichmann-Prozesses] zusammen,
       der damals die meisten kulturellen Ereignisse überschattete. Dann geriet
       Markers Film in Vergessenheit.
       
       Marker, ein bekanntermaßen zurückhaltender Künstler, sprach selten wieder
       darüber. Die Fotos, die er während der Produktion aufgenommen hatte, wurden
       nie öffentlich gezeigt. Erst [4][nach seinem Tod im Jahr 2012] begann der
       Künstler und Filmemacher Shuka Glotman, angeregt durch einen Hinweis von
       Lia van Leer, nach den Fotos zu suchen. 2018 fand Glotman in den Archiven
       von Marker in der Cinémathèque française in Paris über 1.000 Negative –
       verpackt, beschriftet und im Dunkeln vor sich hin vegetierend.
       
       Die bahnbrechende Retrospektive im Israel-Museum, das dieses Jahr sein
       60-jähriges Bestehen feiert, präsentiert nun eine Auswahl von 120 Fotos aus
       dem Pariser Fund zusammen mit Dokumenten, Verträgen und einer restaurierten
       Version des Films. Außerdem werden israelische Filme gezeigt, die von
       Marker beeinflusst waren.
       
       Wie David Perlovs „In Jerusalem“ (1963), ein wegweisendes Werk des
       israelischen Dokumentarfilms, das ein poetisches und kontemplatives Porträt
       des geteilten Jerusalem bietet, und Dan Gevas „Description of a Memory“
       (2006), der Markers „Discription of a Struggle“ in die Jahre der zweiten
       Intifada überträgt. Für die Kuratoren der Ausstellung, Glotman und Reich,
       sind Markers Film und Fotografien nicht nur Archivschätze. Sie sind das
       Fenster zu einem historischen Moment, der heute auf unheimliche Weise
       wieder aktuell wirkt.
       
       ## Lösegeld für Ungerechtigkeit
       
       Die letzte Szene von „Description of a Struggle“ widmet Chris Marker einem
       jungen Mädchen in Haifa während des Kunstunterrichts. Still skizziert es
       vor sich hin. Mit seinem langen Hals und seinen mandelförmigen Augen sieht
       es den Figuren von Modiglianis Porträts verblüffend ähnlich. Das Mädchen
       ist zu dem Zeitpunkt genauso alt wie Israel im Jahr 1960, gerade einmal 12
       Jahre.
       
       Marker vermeidet es, sich auf die große Erzählung nationaler Mythen zu
       stürzen. Stattdessen überlässt er das letzte Wort einem stillen,
       persönlichen Moment: einem Kind mit einem Bleistift in der Hand, einem
       Land, das noch nicht definiert ist, einer Zukunft, die noch nicht
       geschrieben ist. Während das Bild stehen bleibt, spricht Marker aus dem Off
       die eindringlichsten Sätze des Films: „Dies ist das kleine jüdische
       Mädchen, das niemals Anne Frank sein wird. Wir müssen sie verstehen, mit
       ihr sprechen, sie vielleicht manchmal daran erinnern, dass Ungerechtigkeit
       im Land Israel schlimmer ist als Ungerechtigkeit anderswo. Denn dieses Land
       ist das Lösegeld und die Bezahlung für Ungerechtigkeit.“
       
       Für Marker kann eine Gesellschaft, die als Zufluchtsort vor Gräueltaten
       aufgebaut wurde, sich der kritischen Betrachtung nicht entziehen; vielmehr
       tragen ihre Handlungen eine schwerere moralische Last. Unschuld ist
       vorhanden, aber auch eine stille Warnung: Israels moralische Prüfung hat
       gerade erst begonnen.
       
       25 Aug 2025
       
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