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       # taz.de -- Hamburger Soziologe über Familien-Justiz: „Müttern wird systematisch Lüge unterstellt“
       
       > Wolfgang Hammer hilft seit Jahren Müttern, die man von ihren Kindern
       > trennte. Nun kann er das nicht mehr leisten, will aber politisch weiter
       > kämpfen.
       
   IMG Bild: Nach vielen Jahren des Engagements müde: Wolfgang Hammer Foto: Miguel Ferraz
       
       taz: Herr Hammer, Sie hatten in den vergangenen zwölf Jahren Einblick in
       mehr als 4.500 Einzelschicksale von Müttern, die man von ihren Kindern
       trennte. Wie kam es dazu? 
       
       Wolfgang Hammer: Ich habe früher die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in
       der Hamburger Sozialbehörde geleitet und bekam noch während des letzten
       Jahres einige Fälle auf meinen Tisch, in denen Jugendämter fachlich und
       humanitär grob falsch handelten, was zu Leid bei Kindern und Müttern
       führte. Ich habe mich, als ich im April 2013 in Rente ging, mit einigen
       Müttern und auch mit älteren Kindern getroffen und kam 2019 in meiner
       [1][ersten Studie anhand von 42 Fällen] zu dem Schluss, dass wir hier ein
       strukturelles Problem haben. Kinder werden ohne Grund von ihren Müttern
       getrennt.
       
       taz: Gibt es einen Fall, den Sie besonders erinnern? 
       
       Hammer: Ich erinnere mich an einen zwölfjährigen Jungen, der bei seiner
       alleinerziehenden Mutter lebte. Den habe ich getroffen, bevor er vom
       Jugendamt in Obhut genommen wurde und danach. Zuvor war er ein
       lebensbejahendes Kind und ein guter Schüler, der sogar mehrere Sprachen
       sprach. Nach einem halben Jahr im Heim hatte er stark zugenommen, nahm
       Drogen und Alkohol und war sehr unglücklich. Seine Mutter bekam das
       Sorgerecht erst zurück als ihr Sohn 14 war und verließ mit ihm Deutschland.
       
       taz: Was läuft falsch an Familiengerichten? 
       
       Hammer: Der Streit um das Sorgerecht wird oft einseitig zul[2][asten der
       Kinder und Mütter] entschieden. Gerichte und die Jugendämter lassen sich
       von wissenschaftlich widerlegten Mythen leiten. Da ist von zu enger
       Mutter-Kind-Beziehung die Rede, mit der Unterstellung, das gefährde das
       Kindeswohl und man müsse beide trennen.
       
       taz: Wie läuft so was ab? 
       
       Hammer: Das Jugendamt besucht – meist nach einer Beschwerde des Ex-Mannes –
       eine Alleinerziehende zu Hause. Dann reicht oft, dass das Kinderbett im
       Zimmer der Mutter steht und dass das Kind mit acht Monaten noch gestillt
       wird, um von einer symbiotischen Beziehung zu sprechen. Dann trennt man
       Kind und Mutter. Das passiert auch, wenn kein Mann am Sorgerecht
       interessiert ist. Das ist ein Stück weit nationalsozialistische Tradition.
       
       taz: Mütter dürfen nicht zu weich sein? 
       
       Hammer: Richtig. Große Körpernähe, ein direktes Erfüllen von Bedürfnissen
       der Kinder gilt als negativ. Und es gibt die wissenschaftlich widerlegten
       Einschätzungen von Kindeswohlgefährdung, die mit den Beziehungen zum Vater
       zu tun haben. Etwa wenn ein Kind den Vater fürchtet und nicht sehen will.
       Die Mutter hat durch ihn Gewalt erfahren und das Kind erlebte dies mit. Das
       erklären dann viele Jugendämter und Familiengerichte zur Lüge. In Verfahren
       ums Sorgerecht und den Umgang wird Müttern seit zehn Jahren systematisch
       Lüge unterstellt.
       
       taz: Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Hammer: Eine Mutter trennt sich von ihrem Mann wegen körperlicher oder
       seelischer Gewalt. Dann kommt es zu Beschämungen der Mutter. Väter sagen in
       Gegenwart von Dritten: „Deine Erziehung ist grottenschlecht.“ Er sperrt
       ihre Konten, zeigt so seine Macht. Die Frau gerät in den Fokus des
       Jugendamtes, obwohl es nie Hinweise auf eine mangelnde Erziehungsfähigkeit
       gab. Noch extremer ist es, wenn die Mütter vor Gewalt in ein Frauenhaus
       flüchten. Dann kommen die Jugendämter auf jeden Fall.
       
       taz: Wieso denn das? 
       
       Hammer: Mir liegen aus den letzten zwei Monaten fünf Fälle vor, bei denen
       die Flucht ins Frauenhaus als Beleg dafür genommen wird, dass die Frau sich
       damit im Sorgerechtsstreit nur einen Vorteil verschaffen wolle. Ihr wird
       unterstellt, sie hätte nicht unter häuslicher Gewalt gelitten. Zeugen
       werden nicht gehört. Selbst wenn der Hausarzt sagt, dass diese Frau über
       Jahre körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Der Ort Frauenhaus gilt dann als
       kindeswohlgefährdend. Das Jugendamt nimmt die Kinder in Obhut und
       beantragt, das Sorgerecht auf den Amtsvormund oder den Vater zu übertragen.
       Und diese verrückten Begründungen der Jugendämter stehen in den
       Gerichtsbeschlüssen. Das läuft nicht mal verdeckt. Man liest es in den
       Akten.
       
       taz: Wie kommt es, dass sie 4.500 solcher Fälle kennen? 
       
       Hammer: Es wurde über meine qualitative Pilotstudie berichtet und so kamen
       immer mehr Mütter, Ärzte und Pädagogen aus Kitas und Schulen auf mich zu.
       2020 kannte ich mehr als 1.000 Fälle aus 135 Jugendämtern, die in meine
       zweite Studie „[3][Familienrecht in Deutschland]“ eingingen. Seither führe
       ich eine Strichliste. Noch mehr Zulauf erhielt ich, nachdem auch die
       Berichte des Europarats, des UN-Hochkommissars für Menschenrechte und der
       Uni Bielefeld die Ergebnisse unserer Studien für Deutschland bestätigten.
       
       taz: Aber nun können sich Betroffene nicht mehr an Sie wenden. Sie ziehen
       sich zurück. Die Arbeit wird zu viel? 
       
       Hammer: Unser familiärer Alltag wird davon dominiert. Teils kommen nachts
       Anrufe, die meine Frau abfangen muss. Mütter nehmen lange Fahrten in Kauf,
       um ihren Fall zu schildern. Es kommen immer noch zehn bis 15 Anfragen pro
       Woche.
       
       taz: Wie können Sie helfen? 
       
       Hammer: Die Frauen erwarten Ratschläge. Gerade wieder schrieb mir eine
       Frau, die mit ihrem Mann das Sorgerecht teilt, bei Gewalthintergrund. Sie
       hat bald den Gerichtstermin und schickte mir 20 Dokumente, von denen sie
       hofft, dass ich sie lese, um ihrem Anwalt Tipps zu geben. Die gebe ich dann
       schriftlich, auch mit Hinweisen auf Urteile von Oberlandesgerichten und
       aktuelle Forschungsstände. Und seit am 17. November 2023 das
       Bundesverfassungsgericht ein Grundsatz-Urteil fällte, bekomme ich noch mehr
       Anrufe, weil es viele Amtsgerichte und Jugendämter gibt, die dies
       ignorieren.
       
       taz: Sie meinen das Urteil, dass es [4][nicht zulässig ist, vom Parentel
       Alienation Syndrome, dem PAS], zu sprechen? 
       
       Hammer: Ja. Das Urteil bezog sich auf das zuvor publizierte [5][Whitepaper
       des Deutschen Jugendinstituts]. Das besagt, dass die Annahme einer durch
       Manipulation entstandenen Entfremdung des Kindes vom anderen Elternteil
       wissenschaftlich nicht haltbar ist. Das Bundesverfassungsgericht sagt nun:
       Auf Basis dieser Mythen darf kein Gericht in Grundrechte eingreifen. Und es
       darf ein Kind nicht für manipuliert erklären und seine Aussage übergehen,
       was aber passiert.
       
       taz: Zum Beispiel? 
       
       Hammer: Ich kenne Fälle, wo Mädchen über sexuelle Übergriffe von ihren
       Vätern bei Besuchen berichten. Wo Väter zum Teil das sogar gestehen. Und wo
       dann trotzdem Jugendamt und Gericht das erweiterte Besuchsrecht
       befürworten. Ich helfe, dieses Urteil zu verbreiten. Aber es gibt keine
       Erfolgsgarantie, weil kein Gericht gezwungen ist, sich am
       Bundesverfassungsgericht zu orientieren.
       
       taz: Sie unterstützen eine [6][Petition für eine Gesetzesreform]? 
       
       Hammer: Ja. Gewaltschutz sollte Vorrang vor Umgangsrechten der Väter haben.
       Das legt die Istanbul-Konvention des Europarates zur Bekämpfung häuslicher
       Gewalt so fest. Auch die Forschung sagt, dass unter Druck erzeugte Umgänge
       das Kindeswohl gefährden. Das gilt auch bei nicht gewalttätigen Vätern, die
       ein Kind ablehnt, weil es vielleicht nie einen emotionalen Zugang gab. In
       solchen Fällen ist kein Umgang zu gewähren, oder zumindest vorübergehend
       nicht, um dem Vater eine Chance zu geben, sich zu entwickeln.
       
       taz: Die Petition fordert auch, dass Gewalt im Sinn der Istanbul-Konvention
       neu definiert wird. 
       
       Hammer: Die Istanbul-Konvention definiert Gewalt umfassend. Danach gelten
       auch etwa die Einschränkung der Freiheit, der sozialen Kontakte und der
       wirtschaftlichen Autonomie als so gravierend, dass abgeleitet wird: Wer so
       etwas tut, kann keine gleichwertige Beziehung zu Menschen aufbauen. Und ein
       solcher Mensch ist auch für ein Kind nicht als Bezugsperson geeignet.
       
       taz: Laut dieser Petition gilt auch die „Instrumentalisierung der Behörden
       durch eine Flut von Anträgen, Anzeigen und Meldungen“ als Gewalt. Sind das
       nicht für sich genommen legale Handlungen? 
       
       Hammer: So eine Fülle von Anträgen bedeutet im Alltag, dass eine Mutter
       einen Angriff des Vaters gerade noch abgewehrt hat. Und dann kommt der
       zweite und der dritte. Dann meinen Leute aus seinem Freundeskreis, bei
       irgendwas eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen. Dann häufen sich bei den
       Jugendämtern Meldungen. Für meine Pilotstudie kümmerte ich mich um einige
       Fälle sehr intensiv. Drei Frauen gelang es damals, ihr Sorgerecht
       zurückzubekommen. Dann passierte Folgendes: Die Väter riefen jede Woche
       beim Jugendamt an und meldeten neue Gefährdungen. Jedes Mal kommt das
       Jugendamt. So können sie jemanden zermürben.
       
       taz: Wird psychische Gewalt nicht auch oft den Müttern unterstellt? 
       
       Hammer: Diesen Bereich kriegt man nicht ganz raus aus der Grauzone. In
       einem Rechtsstaat muss es da ein Spannungsverhältnis geben. Was eben gar
       nicht geht, ist der zerstörerische Eingriff in kindliche Lebenswelten. Und
       es werden heute in vielen Gerichtsverfahren nur die Mütter begutachtet.
       Obwohl so ein Gutachten selbst bei guter Qualität nur begrenzte
       Aussagekraft hat. Was die Jugendämter und Gerichte schon nach heutigem
       Recht stattdessen tun müssten, ist zu gucken: Wie geht es dem Kind? Was
       sagen Bezugspersonen wie Kita-Fachkräfte, Lehrkräfte, die es jeden Tag
       erleben? Wenn die sagen, es geht dem Kind bei der Mutter gut, dann dürfte
       kein Gutachten mehr angefordert werden. Dass die Gerichte das tun, ist eine
       große Fehlentwicklung.
       
       taz: Es kommt ja sogar zum sogenannten „Umplatzieren“ von Kindern, wollen
       die den Vater nicht sehen? 
       
       Hammer: Das ist das größte Übel. Viele der Kinder landen in Heimen. Da
       nutzen die Väter das Sorgerecht nur aus, um einen Antrag auf Hilfen zur
       Erziehung zu stellen mit der Begründung: Das Kind ist von der Mutter so
       verdorben, die darf keinen Kontakt haben. Dabei ist nichts so
       kindeswohlgefährdend wie dieses „Umplatzieren“. Es zerstört die Lebenswelt
       eines Kindes. Und zwar nicht, weil die Mutter gestorben ist, sondern weil
       es von der Staatsmacht mit Gewalt in ein Heim gebracht wird. Und dann lebt
       das Kind irgendwo in einer Einrichtung, ohne Kontakt zu Großeltern, Mutter
       oder Freunden. Und ich lese dann die Briefe, wo das Kind sich im ersten
       Brief handschriftlich nach der Mutter sehnt und im zweiten steht dann in
       der Sprache eines Erwachsenen das Gegenteil: „Du bist für mich
       kindeswohlgefährdend.“ Schreibt eine Achtjährige an ihre Mutter. Mit
       Schreibmaschine.
       
       taz: Was wollen Sie nun tun? 
       
       Hammer: Weiter forschen und fortbilden, um Haltungen zu ändern und das
       System zu reformieren – so wie es jetzt schon im Gesetz steht. Ich hoffe
       auf eine Anhörung im Bundestag. Ich habe zudem mit einer Soziologin, die
       auf Femizide und Prävention spezialisiert ist, ein Fortbildungskonzept für
       den norddeutschen Raum entwickelt.
       
       taz: Wie halten Sie es durch, keine Fälle mehr zu beraten? 
       
       Hammer: Ich ziehe mich schrittweise zurück und verweise auf unsere
       Homepage.
       
       taz: Gibt es eine andere Adresse für diese Mütter? 
       
       Hammer: Das ist das Problem. Es gibt inzwischen viele örtliche Kreise, die
       sich bildeten, oder runde Tische. Die sind aber wenig aktionsfähig, denn
       sie bekommen häufig kein Geld für Fortbildungen oder Veranstaltungen.
       
       27 Aug 2025
       
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