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       # taz.de -- Kulturreportage aus Rumänien: Wo Dalí den dunklen Grafen bezwingt
       
       > Strange things happen in Transsylvanien. Offen und geschichtsbewusst
       > zeigt sich die Kulturszene in der transsylvanischen Stadt Cluj-Napoca.
       
   IMG Bild: Subkultur surreal: Wandmalerei in der Strada Constanţa im siebenbürgischen Cluj-Napoca
       
       Wir sind in Transsylvanien, und Transsylvanien ist nicht England. Es wird
       für Sie viele seltsame Dinge geben“. Bei Rumänien immer noch das Klischee
       Dracula zu zücken, offenbart eine verräterische Projektion West. Aber die
       Warnung, mit der der Schreckensmann aus Bram Stokers legendärem Roman von
       1875 den jungen Rechtsanwalt Jonathan Harker auf „seltsame Dinge“ während
       seines Besuchs in dem düsteren Schloss in den Karpaten einstimmt, schießt
       dem Besucher dann doch durch den Kopf, der in diesem Sommer durch das
       siebenbürgische Klausenburg streift, [1][das heute Cluj-Napoca] heißt.
       
       Wie zu erwarten, sind nirgendwo in Rumäniens zweitgrößter Stadt ein
       bleicher Dracula, Fledermäuse oder verdächtige Nebelschwaden zu sehen.
       Friedlich brütet in der Hauptstraße Regele Ferdinand das reale
       Dreisterne-Hotel „Transylania“ unter der Mittagssonne, in dem der fiktive
       Harker abstieg, als es noch Royale hieß und er dort Backhendl mit Paprika
       verschlang, bevor er am nächsten Morgen in den Zug nach Bistrița stieg, wo
       des Grafen Kutsche auf ihn wartete.
       
       Auch die zähnefletschende Bronzeskulptur vor dem [2][„Steampunk“]-Museum
       Transylvania, einer bizarren Sammlung retrofuturistischer Objekte vom
       dampfgetriebenen Raumschiff bis zu Kuckucksuhren, entpuppt sich als
       geflügelter Löwe und keines der Flattertiere, in die sich Dracula des
       Nachts verwandelte. Immerhin wirbt das kleine Museum damit, „the strangest
       museum in the country“ zu sein.
       
       Wirklich Lügen strafte vor ein paar Monaten den Schein geisterfreier
       Normalität einzig Salvador Dalí. Ein Plakat mit einem Porträt des
       Surrealisten an der Casa Hintz warb für die Ausstellung seiner Skulpturen
       und Zeichnungen im Obergeschoss der alten Apotheke schräg gegenüber der
       Piața Unirii. Da steht die gotische St. Michaels-Kathedrale aus dem 15.
       Jahrhundert, das Wahrzeichen der Stadt.
       
       ## Mit steilgestelltem Schnurrbart
       
       Mit seinem steilgestellten Schnurrbart und den aufgerissenen Augen wirkte
       der Surrealist wie ein Wiedergänger des blutsüchtigen Grafen. „I’m not
       strange. I’m just not normal“, der Untertitel der Schau, passte auf den
       karpatischen Mythos wie das Kreuz vor Draculas Gesicht. Und Dalís Skulptur
       „Mann mit Schmetterling“ rief das Geschäftsmodell Metamorphose auf, dem
       auch Stokers berüchtigter Graf folgte.
       
       Das unscheinbare, zweistöckige Eckhaus hat eine lange Geschichte. Die um
       1580 eröffnete Apotheke ist die älteste der Stadt. Erst kommunal betrieben,
       wechselte sie mehrmals die Besitzer, bis die Familie Hintz sie 1863
       übernahm. Über Nacht verstaatlichten die sozialistischen Machthaber die
       Apotheke 1948 und eröffneten sechs Jahre später darin ein Apothekenmuseum.
       Ihre Besitzer, die Familie Hintz, Angehörige der ungarischen Minderheit,
       kehrten in den achtziger Jahren dem Vampirregime der Ceaușescus den Rücken
       und emigrierten nach Deutschland.
       
       Einer ihrer Nachfahren, der Frankfurter Augenarzt Georg Hintz, übernahm
       2017 das historische Gemäuer, nachdem es 2008 an die Familie rückübertragen
       worden war. Im Januar 2024 konnte er den verwinkelten Bau neu eröffnen.
       Vier Jahre dauerte die denkmalgerechte, millionenteure Renovierung des im
       Sozialismus heruntergekommenen Eckhauses. Selbst einen Münzschatz aus der
       Zeit der Cholera-Epidemie 1873 bargen die Arbeiter.
       
       Heute ist das „Muzeul de Farmaciei“, inzwischen Dependance des Historischen
       Museums Transsylvanien, Hintz’ Untermieter. Die Liaison ist eines der raren
       Beispiele einer Public-Private Partnership, von der sich die Kulturszene
       Rumäniens angesichts leerer Staatskassen ein Überleben in politisch
       turbulenten Zeiten verspricht. Für die erste Ausstellung in den edel
       renovierten Räumen über dem Museum konnte Hintz den italienischen
       Kunsthändler Beniamino Levi gewinnen. Der Weggefährte Dalís präsentierte
       seine Sammlung von dessen Skulptur-Editionen.
       
       ## Digitale, lokale Avantgarde
       
       Nach dem Zugpferd der europäischen Moderne folgte im Museum die junge,
       lokale Avantgarde mit der Ausstellung „Interaktive Digitale Kunst“. Mit
       immersiven Installationen suchten Absolvent:innen der Film- und
       Theater-Fakultät der Universität Babeș-Bolyai Prägungen wie Identität,
       Gemeinschaft und Erinnerung neu erfahrbar zu machen.
       
       Zusammen mit dem Festivalmanager Mihai Păun will Hintz das Museum peu à peu
       um ein Kulturcafé erweitern. Ein Shop und die gut sortierte Bücherei
       Cărturești komplettieren den neuen Kunstverbund – eine der vielen, kleinen,
       nervenzehrenden Metamorphosen, die Cluj langsam in eine kulturelle
       Destination verwandeln.
       
       Die Wiedergeburt der Casa Hintz ist das spannende Beispiel einer
       Identitätsbefragung zwischen Ost und West, Deutschland und Rumänien –
       überall waren die Hintzens in der Minderheit. Mit der Renovierung entdeckte
       der Arzt die Heimat, der er als Zwanzigjähriger den Rücken gekehrt hatte,
       neu. Zugleich treibt ihn die Idee der Wiedergutmachung einer historischen
       Ungerechtigkeit.
       
       Bei aller Familiengeschichte geht es ihm aber um das kulturelle Erbe. Er
       freut sich, dass er das Haus für die Stadt erhalten konnte, „in der meine
       Vorfahren gelebt und gearbeitet haben“ sagt er. „Jetzt besteht die Chance,
       dass Liberalität und Offenheit im Kultursektor erhalten bleiben“
       kommentiert er den Wahlsieg des liberalen [3][Kandidaten Nicușor Dan bei
       den Präsidentschaftswahlen im Mai]. Doch auch die politische Rechte hat in
       der liberalen Universitätsstadt mit ihren 65.000 Studierenden ein knappes
       Drittel der Stimmen erhalten.
       
       ## Dependance in Berlin, Plan B
       
       Derart auf neues Niveau gebracht, bildet die Casa Hintz nun das noble
       Gegenstück zu dem Bánffy-Palais schräg gegenüber. In dem ehemaligen
       Stadtpalast ungarischer Herzöge im Stil des transylvanischen Barock
       residiert heute das Muzeul de Arte. Beim Flanieren auf knarrendem Parkett
       lässt sich vor der Phalanx angestaubter Ölbilder nachvollziehen, wie sich
       die rumänische Malerei von der Ikone [4][zur Abstraktion hin
       freiarbeitete].
       
       Gegenläufige Parallelbewegungen: Während der Deutschrumäne Hintz sich
       zurück nach Südosten bewegt, strebt die „Schule von Cluj“, eine Gruppe
       postkommunistischer Maler:innen, allesamt Absolvent:innen der
       Kunstakademie Cluj, die seit den 2000ern die Kunstwelt erobert, nach
       Westen. [5][Plan B, ihre Galerie, hat jetzt eine Dependance an Berlins
       Strausberger Platz].
       
       Wer das verwinkelte Muzeul Farmaciei mit über 7.000 Objekten besucht,
       betritt ein Reich zwischen Leben und Tod. Zwar ist die Medizin das
       Gegenprogramm zum draculanischen Aberglauben. Aber neben den bemalten
       Porzellantiegeln, giftgrünen Urangläsern und steinernen Mörsern finden sich
       dort auch Quacksalbereien wie Krebsaugen, ein „Liebeselixier“ oder das
       „Mumienpulver“. Doch selbst in Siebenbürgen, das zeigt die Sammlung
       historischer Apparaturen des Muzeul, hat die moderne Medizin den
       Aberglauben überholt. Mit einem angespitzten Holzkeil oder
       Knoblauchgebinden muss hier niemand mehr Untote erlegen.
       
       ## Einladung zur Zeitreise
       
       Die Faszination einer Zwischenwelt wirkt aber immer noch. Die Exponate des
       beliebten Steampunk-Museums spielen in einer alternativen Realität. In dem
       vollgestopften kleinen Haus lässt sich das Labor eines Alchemisten
       betreten, der nach dem ultimativen Lebenselixier suchte. Und wer ein Buch
       in einem Regal verrückt, dem öffnet sich ein versteckter Raum mit einer
       stählernen Zeitmaschine, wie aus den [6][Romanen von Jules Verne] und H. G.
       Wells.
       
       In dem Gefährt kann man sich in Geoffrey Sax’ BBC-Serie „Doctor Who“ beamen
       lassen, in der ein mysteriöser Zeitreisender in gefährliche Abenteuer
       verwickelt wird. So wie er sich regenerieren kann, wenn er tödlich
       verwundet wird, ähnelt der unsterblich gewordene Zeitreisende darin dem
       berühmtesten Transsylvanier, der nie gelebt hat, aber als Mythos
       unsterblich ist.
       
       Wer am Ende des Parcours dann dem Schild „Exit to Reality“ folgt, steht
       wenige Meter weiter in der Strada Constanţa vor einer langen Mauer, die
       Clujs malerische Subkultur in Beschlag genommen hat. Eine Frau verschwindet
       auf einem der Murals mit wehenden Rockschößen durch eine geschlossene Wand.
       Immer noch geschehen „strange things“ in Transsylvanien.
       
       31 Aug 2025
       
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