# taz.de -- Landwirtschaft in Syrien: „Ich habe keine andere Wahl, ich muss arbeiten“
> Abeer Shaikko ernährt sich und ihre Familie mit Feldarbeit, in ihrer
> Gemeinde ist sie die einzige Vorarbeiterin. Doch der Job ist hart – und
> gefährlich.
IMG Bild: Arbeiterinnen bearbeiten ein Feld nahe Al-Huwaiz in Nordsyrien
Al-Huweiz taz | Noch bevor die Sonne in Al-Huweiz, einem Dorf nördlich der
fruchtbaren Al-Ghab-Tiefebene im Nordwesten Syriens, aufgeht, sitzt Abeer
Shaikko schon hinter dem Steuer ihres weißen Lastwagens. Auf der Ladefläche
sitzen 15 Landarbeiterinnen, die sich auf einen langen Tag harter Arbeit
auf den Feldern vorbereiten. Sie bedecken ihre Gesichter mit Tüchern, um
sich vor der sengenden Sonne zu schützen, schon bald wird die Temperatur
über 30 Grad Celsius betragen. Einige Frauen, wie Shaikko, tragen noch eine
Mütze über dem Kopftuch.
Eine Szene, die hier seit Anfang Juni wieder alltäglich geworden ist.
Jahrelang lagen die Felder brach: Die Provinz Hama, in der Al-Huwaiz liegt,
wurde ab Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 zu einem umkämpften Gebiet
zwischen dem Assad-Regime und Rebellen. Massive Luftangriffe, Belagerungen
und schwere Feuergefechte um Dörfer und Kleinstädte waren an der
Tagesordnung. Viele Bewohner flohen, andere wurden vertrieben.
[1][Dann stürzte im Dezember 2024 das Regime von Diktator Baschar
al-Assad]. Heute gelte die ländlichen Gebiete Syriens rund um die Städte
Hama, Idlib und Aleppo – wobzu auch Al-Huweiz gehört – zu rund 80 Prozent
als zerstört. In der Region mangelt es an Grundversorgung mit Wasser und
Strom, das Abwasser wird nicht entsorgt, es gibt kaum Internet. In vielen
Wohngebieten türmen sich die Trümmer zerschossener Gebäude. Hinzu kommt,
dass es außer der Landwirtschaft kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt.
## Nach langer Zeit der Verteibung in die Heimat zurück
Trotzdem sind viele der ehemaligen Bewohner der Region zurückgekehrt. So
wie Shaikko und die Frauen auf der Ladefläche ihres Lastwagens. Shaikko –
eine große, schlanke Frau – erzählt: Die erste Schicht auf den Feldern
beginnt um fünf Uhr morgens. Gegen zehn Uhr kehren die Frauen nach Hause
zurück, um sich auszuruhen. Um drei Uhr nachmittags beginnt die
Abendschicht, die noch einmal vier Stunden dauert. [2][Auf den Feldern]
jäten die Landarbeiterinnen Unkraut, beschneiden Obstbäume, ernten Weizen
und die Futterpflanze Luzerne. Letztere wird in große Strohsäcke gestopft.
150 pralle Säcke müssen täglich mit der tiefwurzelnden krautigen Pflanze
befüllt werden.
Der Tageslohn für die Feldarbeit beträgt fünf US-Dollar pro Person, was
nicht einmal für eine Mahlzeit reicht. Dennoch arbeiten die Frauen weiter.
„Ich habe keine andere Wahl“ sagt Shaikko während sie Heu in einen der
Säcke presst. „Ich muss arbeiten, um mich und meine Kinder zu ernähren,
auch wenn das mitten in den Trümmern geschieht“.
Anfang Mai kehrte die 39-Jährige mit ihren Kindern, zwischen 8 und 18
Jahren alt, aus einem Flüchtlingslager in Idlib nach Al-Huweiz zurück.
Shaikko ist in dem Dorf aufgewachsen, hatte sich hier ein Leben mit ihrem
Mann aufgebaut. Vor zehn Jahren starb er an Krebs, seitdem sorgt sie allein
für ihre Familie. Sich und ihren Kindern hat sie ein Zelt in der Nähe der
Trümmer ihres Hauses aufgebaut und mit der Hilfe von Bauarbeitern einen
Raum renoviert, in dem sie ihre Habseligkeiten aufbewahren kann.
## In den Feldern gibt es Hunde, Insekten, Schlangen
Auch Haleema Al Jasem kam Anfang des Jahres mit ihrem Mann und ihren vier
Kindern aus Tripoli nach Al-Hawiz zurück. Nach dem Sturz des Assad-Regimes
hatte ihr Vermieter sie aus der Unterkunft geworfen. „Wir sind nur mit
unseren Kleidern zurückgekommen und haben bei null angefangen“, sagt die
27-Jährige. In Al-Hawiz nahm sie gemeinsam mit ihrer Schwägerin und anderen
Frauen an Workshops zu Landwirtschaft teil. Und schloss sich einer Gruppe
Landarbeiterinnen an – um angesichts der wenigen Arbeitsmöglichkeiten in
der zerstörten Heimat ein Einkommen für ihre Familien zu bestreiten.
„Das Leben ist hart, aber wir versuchen es“, sagt sie, „wir haben keine
andere Wahl als die Felder.“ Jeden Morgen verabschiedet sie ihre Kinder und
läuft die unbefestigte Straße zu Fuß entlang, bevor sie in einen Lastwagen
steigt, um auf die Felder zu kommen. Ein Fahrdienst, für den sie einen
[3][Teil ihres Lohnes] abgeben muss. Al Jasem erzählt, wie gefährlich es
sei, das Haus vor Sonnenaufgang zu verlassen: In den Feldern gebe es viele
streunende Hunde, giftige Insekten und Schlangen.
Ihren Arbeitstag beschreibt sie so: „In der einen Hand halte ich die
Machete und in der anderen die Sorgen, während mein Herz zuhause bei meinen
Kindern bleibt.“ Sie schaut müde auf ihre rauen Hände, die viele
Schnittwunden und Kratzer von Getreideähren tragen. „Wir arbeiten und
schweigen, manchmal lachen wir auch miteinander oder klagen uns gegenseitig
unser Leid. Das Wichtigste aber ist, dass wir durch unsere Arbeit niemanden
um Geld bitten müssen.“
## Auf den Feldern Nordostsyriens wachsen Weizen und Baumwolle
Ihre Rückkehr in ihr Heimatdorf – nach sechs Jahren Vertreibung – erfüllt
Abeer Shaikko mit großer Freude. Wenn nur das Dorf nicht so zerstört wäre.
Die meisten der Rückkehrer leben in den Resten ihrer Häuser oder so wie
Shaikko in provisorischen Zelten. Sie benötigt dringend Sonnenkollektoren
zur Stromerzeugung, die sie auf den Überbleibseln ihres Hauses installieren
will. Doch die Anschaffungskosten belaufen sich auf etwa 500 Dollar.
Shaikkos Familie ist eine von etwa 800, die nach dem Sturz des
Assad-Regimes aus den Flüchtlingslagern in Nordsyrien in das Dorf
zurückgekehrt sind. Viele von ihnen aus freien Stücken und aufgrund ihres
Heimwehs. Andere nur vorübergehend, um bei der Sommerernte auszuhelfen.
Die Landarbeit in Al-Huweiz wird überwiegend von Frauen verrichtet: Nach
Schätzungen des örtlichen Gemeinderats stellen sie etwa siebzig Prozent der
Arbeitskräfte zwischen 16 und 60 Jahren. Seit jeher ist der Anbau von
Weizen, Luzerne, Baumwolle und verschiedenen Gemüsesorten wie Auberginen,
Tomaten, Bohnen und Erbsen Haupterwerbsquelle der Bewohner der
Al-Ghab-Ebene.
Für viele ist es gerade die einzige Einkommensquelle. Nach 14 Jahren
Bürgerkrieg in Syrien sind Arbeitslosigkeit und Armut weit verbreitet. Laut
einem UN-Bericht aus dem Februar 2025 liegt die Armutsquote im Land bei 90
Prozent, benötigen 5,7 Millionen Menschen ein Dach über dem Kopf, fehlt 14
Millionen Menschen der Zugang zu sauberem Wasser.
## In den Felder Syriens liegen noch immer Landminen
Seit ein paar Wochen ernten Abeer Shaikko, Haleema Al Jasem wie viele
andere Frauen jetzt also Weizen auf den Feldern. Die langen Tage sind nicht
nur anstrengend, sondern auch lebensgefährlich. Neben der Hitze,
Schlangenbissen und Skorpionstichen, sind die Arbeiterinnen [4][auch der
Gefahr von Minen ausgesetzt]. Nach wir vor sind große Flächen der
Al-Ghab-Ebene mit Minen des Assad-Regimes verseucht. Wie in allen
Landesteilen Syriens kommt die Räumung der Felder in der Al-Ghab-Ebene nur
langsam voran.
Grund sind laut Abdul Halim al-Hassan, Vorsitzender des örtlichen
Gemeinderats, zu wenige Initiativen lokaler Freiwilligenteams, die in
Zusammenarbeit mit Experten des Verteidigungsministeriums die Minen im Dorf
beseitigen. Auch stünden zu wenige Räumgeräte zu Verfügung. Es sei nicht
absehbar, so al-Hassan, wann Al-Huweiz als minenfrei erklärt werden kann.
So ist es in vielen Dörfern der Region. „Einige der wichtigsten Felder
wurden geräumt, viele benachbarte Gebiete sind aber noch nicht sicher.“
Auch sei es schwierig, die verminten Flächen zu bestimmen. Wie durch ein
Wunder wurde in Al-Hawiz bisher kein Mensch durch Minen verletzt oder
getötet. Nur eine Schafherde von 150 Tieren traf es.
Auf die Frage, wie Shaikko bei Krankheit oder einem Unfall auf dem Feld
abgesichert sei, und ob sie ihre Rechte als Arbeiterin kenne, lacht sie.
„Das für mich wichtigste Recht, auf das ich bestehe, ist eine kurze Pause,
in der wir Arbeiterinnen uns eine Tasse Tee teilen“, sagt sie. Eine
Krankenversicherung oder anderweitigen gesetzlichen Schutz für die
Landarbeiterinnen im Dorf gebe es nicht. Auch keinen Schutz vor Ausbeutung
durch die Arbeitgeber.
## Dass eine Frau Vorarbeiterin ist, ist in Syrien ungewöhnlich
Trotz der hohen Inflation im Land – sie beträgt über 15 Prozent – sind die
Löhne für Feldarbeit seit Jahren unverändert geblieben. Gewerkschaften oder
staatliche Aufsichtsbehörden, die die Arbeitsverträge der Arbeitnehmer
prüfen, eine Kranken- oder Sozialversicherung anbieten, oder sich für
bessere Arbeitsbedingungen einsetzen, gibt es nicht.
Vielmehr sind die Beschäftigungsverhältnisse in provisorischen sogenannten
„Werkstätten“ organisiert, in denen bis zu zwanzig Frauen arbeiten. In der
Regel werden sie von einem Mann, dem sogenannten „Shawish“, beaufsichtigt.
In Al-Hawiz gibt es etwa zehn dieser Werkstätten, mit Shaikko jedoch nur
eine „Shawisha“.
Dass eine Frau wie Shaikko für die Arbeiterinnen in der Werkstatt zuständig
ist, ihre Arbeit beaufsichtigt und sie täglich mit ihrem Auto von den
Häusern zu den Feldern fährt, ist im Dorf einzigartig. „Wenn ich mit dem
Auto fahre, sehen mich die Leute seltsam an“, erzählt sie. Eine Frau am
Steuer – noch dazu an dem eines Lastwagens – das ist in Syrien ein eher
seltenes Bild.
Shaikko erwarb den Wagen vor ihrer Flucht. Sie hatte dafür damals ein Stück
Land verkauft hatte, mit dem Ziel sich ein festes Einkommen zu sichern.
Ihre Liebe zum Autofahren, geweckt und gefördert durch den Vater, wurde zu
einer sicheren Einnahmequelle. Das Autofahren lernte Shaikko schon mit
zwölf Jahren. Davor fuhr sie Fahrrad und Traktor, schließlich mit dem
Transporter des Vaters, der ihre Leidenschaft für die Feldarbeit und das
Fahren schätzte.
## „Solange wir Land haben, haben wir eine Chance“
Wie viele der Arbeiterinnen erlernte Shaikko die Arbeit in der
Landwirtschaft als junges Mädchen von der Mutter. „Es ist das Einzige, was
ich kann“, sagt sie. Während des Krieges, als sie in den Lagern nördlich
von Idlib lebte, half sie je nach Jahreszeit bei der Oliven- oder
Weizenernte und im Rosenanbau. Versorgte sich und ihre Kinder mit ihren
Händen.
Trotz der täglichen Strapazen ist die Landwirtschaft auch nach der
Befreiung Syriens Shaikkos einzige Hoffnung, für sich und ihre Familie ein
neues Leben aufzubauen. Auch wenn die Ernte durch die Dürre und die
verspätete Aussaat des Weizens in diesem Jahr schlecht ausfällt. Die Böden
sind durch den Krieg vernachlässigt und verödet sind. Shaikko und die
Landfrauen von Al-Huweiz machen weiter: „Solange wir Land haben, haben wir
eine Chance zu überleben“, sagt sie.
Die Autorin Monera Baloush ist Teilnehmerin des Syrien-Workshops der
taz-Panter-Stiftung, Journalistin und Mutter von vier Kindern zwischen 13
und zwei Jahren. Sie stammt aus der Umgebung von Damaskus, lebte aber lange
als Binnengeflüchtete ist Nordwestsyrien. Nach dem Sturz des Assad-Regimes
kehrte sie nun in ihre Heimat zurück.
23 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] /Alltag-nach-dem-Fall-des-Assad-Regimes/!6081662
DIR [2] /Truemmer-und-Traeume-in-Syrien/!6108369
DIR [3] /Wirtschaft-im-Nahen-Osten/!6105779
DIR [4] /Landwirtschaft-in-Syrien-/!6101527
## AUTOREN
DIR Mounera Baloush
## TAGS
DIR Schwerpunkt Syrien
DIR Landwirtschaft
DIR Frauenrolle
DIR Aleppo
DIR Landminen
DIR Lesestück Recherche und Reportage
DIR Longread
DIR Reportage
DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
DIR Social-Auswahl
DIR Trümmer und Träume
DIR taz Panter Stiftung
DIR Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Trümmer und Träume in Syrien: In der Heimat ohne Wurzeln
Unsere Autorin ist Tochter von Olivenbauern in der Region Idlib. Nach der
Befreiung ihrer Stadt kehrt sie zurück – und findet nur einen Haufen
Steine.
DIR Geschafft? Zehn Jahre nach der Ankunft: Willkommenskultur – was ist davon übrig?
In der Podcastreihe „geschafft?“ berichten geflüchtete Journalist*innen,
die 2015 nach Deutschland kamen, über ihren Alltag. Selma Kral ist hier zu
Gast.
DIR Wirtschaft im Nahen Osten: Türkische Stoffe, deutsche Vitamine
Mit der Aufhebung von Sanktionen öffnet sich Syrien für ausländische
Investor*innen. Profitiert die Bevölkerung davon?