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       # taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Ich frage mich, wo ich diesmal landen werde“
       
       > Das Gebiet Saftawi bei Gaza-Stadt, in dem unsere Autorin lebt, muss
       > evakuiert werden. Doch wann und wohin soll sie flüchten? Was soll sie
       > mitnehmen?
       
   IMG Bild: Palästinenser*innen, immer wieder vertrieben, durch die Trümmer ihrer Stadt, erschöpft von Angst und Ungewissheit
       
       Erinnert sich meine Tasche daran, wie oft ich sie seit dem 7. Oktober 2023
       gefüllt und geleert habe? Ich frage das, als sei das Erinnerungsvermögen
       von Gegenständen besser geworden als mein eigenes Gedächtnis. Hunger und
       Sorgen haben unseren Geist und dann unseren Körper aufgezehrt.
       
       Wir haben die Fähigkeit zu denken und uns zu erinnern verloren – und die,
       klare Entscheidungen zu treffen. Schnelle Reaktionen fallen uns schwer, vor
       allem solche, die schneller sind als das Tempo der unerbittlichen
       Bombardements durch das israelische Militär. Sie beginnen meist kurz,
       nachdem [1][für ein Gebiet Evakuierungsbefehle erteilt] wurden.
       
       So wie jetzt: Das Gebiet Safatawi im Norden Gazas, wo ich kürzlich mit
       meiner Familie Zuflucht gesucht habe, muss evakuiert werden. Alle
       Betroffenen kämpfen gegen die Zeit und gegen ihre Hilflosigkeit. Sie
       versuchen, den Raketen zu entkommen, die bald auf das Viertel niedergehen
       werden. Und wissen jedoch nicht, wohin sie denn fliehen sollen. Hier stehen
       wir nun, unfähig, über unser eigenes Leben zu entscheiden. Unsicher, wohin
       wir gehen sollen, wie wir in Sicherheit kommen können.
       
       Wir sind müde von der Vertreibung und den ständigen Umzügen. Erschöpft von
       Angst, von endloser Unsicherheit und Instabilität. Wir sind es leid, jedes
       Mal von vorne anzufangen. Während ich diesen Text schreibe, gehe ich jedes
       Detail der vergangenen Vertreibungen nochmal durch: Ich bin durch alle
       Provinzen Gazas gezogen, vom Norden bis zum Süden. Ich frage mich, wo ich
       diesmal landen werde. Werde ich mich unter meinen neuen Nachbarn zu Hause
       fühlen? Wird die Situation „relativ“ sicher sein? Wird es das Nötigste zum
       Leben geben – [2][Wasser], Essen? [3][Einen Markt] in der Nähe? Eine
       Ladestation für Handys oder eine vernünftige Internetverbindung?
       
       ## Fange ich noch einmal von vorne an und lasse alles los?
       
       Ich denke darüber nach, was ich dieses Mal mitnehmen muss, was jetzt
       wirklich wichtig ist. Bei meiner ersten Flucht, vom Norden Gazas in den
       Süden, trug ich nur meine Seele mit mir. Später hatte ich Mühe, meine
       Erinnerungen zu tragen; sie sind schwer und belastend. Dazu kamen noch
       meine Tränen, die Hilflosigkeit und ein paar abgetragene Kleidungsstücke.
       
       Als im Winter der Waffenstillstand verkündet wurde, bin ich den ganzen Weg
       wieder zurückgegangen, zu Fuß: Von „Al-Nuwairi“ in Nuseirat nach „Qleibo“
       in Beit Lahiya im Norden Gazas. Und jetzt soll ich alles wieder tragen?
       Oder fange ich noch einmal von vorne an, trage nur meine Seele mit mir und
       lasse alles andere los?
       
       Während ich diesen Text schreibe, habe ich das Gefühl, das uns der Tod
       bereits umgibt. Sind wir nicht alle Märtyrer, deren Hinrichtung nur
       aufgeschoben wurde? [4][Wenn der Krieg so weitergeht,] wird die Geschichte
       einmal das berichten: Dass eine ganze Stadt zu einem Friedhof wurde, dass
       es hier früher einmal Leben gab. Und nur eine Tafel wird daran erinnern:
       „Gaza war hier“.
       
       Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische
       Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit
       acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges
       nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“
       holen wir Stimmen von vor Ort ein.
       
       26 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sawsan Al-Ajouri
       
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