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       # taz.de -- Die Wahrheit: Durchreisende Rentner
       
       > Eine einzige treffende Formulierung kann zu einem Anfall von
       > Versschmiederitis führen, gegen die es aber ein schnelles Heilmittel
       > gibt. Eine Glosse.
       
       Mein Freund J. ist ein Mann mit Manieren, weshalb er einen auch stets im
       Gespräch ausreden lässt und es ungewöhnlich ist, von ihm – so wie neulich,
       als wir uns über Mobilität im Allgemeinen und die von Senioren im
       Besonderen unterhielten – unterbrochen zu werden.
       
       Ich hätte da gerade eben, so J., eine Formulierung verwendet, die ihm
       gefalle. Ich wisse nicht, was er meine, unterbrach ich nun seinerseits J.,
       der mir umgehend Auskunft gab: „Du hast die Formulierung ‚Durchreisende
       Rentner‘ benutzt. Das gefällt mir“, so J. in direkter Rede. „Das klingt
       nach einem Bandnamen, so wie Einstürzende Neubauten. Mach was draus!“
       
       Nun habe ich zwar einerseits noch nicht die Lebensphase rüstig reisender
       Rentner erreicht, bin aber andererseits schon weit über jene hinaus, in der
       man Bands gründet und mit originellen Namen versieht – was man heutzutage
       übrigens per dafür eingerichteter Webseiten machen kann, die mit
       Verheißungen wie „Genialen Bandnamen finden, der garantiert rockt“ locken
       oder als „Kostenloser Bandnamen-Generator“ ihre Dienste anbieten –, weshalb
       ich auch keine Band mit dem Namen Durchreisende Rentner gründen kann und
       will. Dennoch musste ich J. beipflichten: Die Formulierung hatte was.
       
       Aber was ließ sich daraus machen? Ein Roman, der von Rentnern on the road
       handelt? Oder fürs Erste ein kleines Gedicht? Schwingt nicht in den Worten
       etwas Raphaftes mit: „Durchreisende Rentner … tam tatam.“ Und tatsächlich
       stellte sich in meinem Hirn flugs ein Zweizeiler ein: „Durchreisende
       Rentner brauchen nicht mehr viel, / eine neue Hüfte und ein Wohnmobil.“
       
       Gar nicht so übel für den Anfang. Metrisch nicht zu beanstanden, von der
       Aussage her kritisch und überraschend, insgesamt ausbaufähig. Ein Anfang
       war gemacht, und ich ließ ihm, die Gunst des kreativen Augenblicks nutzend,
       weitere Verse folgen: „Durchreisende Rentner: immer on the road, / heute
       hier, morgen dort, übermorgen tot.“ Na ja. „Durchreisender Rentner fährt im
       dritten Gang, / wenn’s Getriebe jault, wähnt er sich for-ever young.“ Um
       Himmels willen. So ging es weiter, und der lyrische Motor stotterte
       langsam. Nein, kein Bandname und ein Gedicht auch nicht. Aber für den
       Papierkorb war das mit den „Durchreisenden Rentnern“ zu schade.
       
       Und dann hatte ich’s: eine Glosse! Eine Glosse oder Kolumne geht immer. Und
       es konnte ja wohl kein Zufall sein, dass ich gerade jetzt beim großen
       Glossisten Robert Walser das hier gefunden hatte: „Wer etwas zu sagen habe,
       schreibe mit Freuden, mit ersten und letzten Kräften hin und wieder eine
       Glosse, möchte man meinen“, denn „bürgerliche und sonstige Leser lesen
       herzlich gern Glossen, das steht mit Felsenfestigkeit fest.“
       
       Ja, das tut es. Also machte ich mich daran, mit Freuden und letzten Kräften
       eine kleine Glosse zum Thema „Durchreisende Rentner“ zu schreiben. Das wäre
       also auch erledigt.
       
       9 Sep 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Schaefer
       
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