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       # taz.de -- Kurdische Frauen in der Türkei: Die Kunst des Widerstands
       
       > Der Kurden-Konflikt in Südostanatolien auf die Bühne gebracht: Was Körper
       > erzählen können, wenn einem die Sprache genommen wird.
       
   IMG Bild: Die Performance „Jîn – Jinên Azad“ kreist um staatliche Gewalt gegen Kurd:innen – und wie diese sie zu brechen versuchen
       
       Diyarbakır taz | Jin, Jiyan, Azadî!“ – „Frau, Leben, Freiheit.“ Der Ruf
       schallt durch das Stadttheater von Diyarbakır, einer Millionenstadt im
       südöstlichen Anatolien, zuerst von der Bühne, dann aus dem ganzen Saal.
       Menschen springen von den Sitzen auf, klatschen, pfeifen, jubeln. Die
       Premiere von „Jîn – Jinên Azad“ („Die Frauen der Freiheit“) ist mehr als
       ein Theaterabend – sie ist an diesem Abend ein politisches Ereignis.
       
       Kurz zuvor war die Bühne noch in Nebel getaucht, orangefarbenes Licht
       schneidet durch die Schwaden. Weiße Gasbetonsteine türmten sich,
       verschoben, im Zerfall begriffen: Eine Mauer, die nie Schutz war, sondern
       Last und Erinnerung. Sieben Frauen treten hervor, in schlichten Kleidern
       mit geblümten Mustern und erdigen Farben. Ihre Bewegungen sind roh und
       weich zugleich, abrupt und fließend. Steine werden gestoßen, gehoben,
       geschultert. Ein Stein wird zur Waffe, ein anderer zur Stütze. Sie fallen,
       lachen, schreien. Stimmen mischten sich mit dem Rhythmus ihrer Schritte,
       ein Strom von Energie, der mehr erzählt, als Worte es könnten.
       
       „Jîn – Jinên Azad“ ist keine lineare Erzählung, sondern eine Collage aus
       Körpern, Stimmen und Erinnerungen. Es ist die Geschichte kurdischer Frauen:
       Es geht um Unterdrückung und Gewalt, um verlorene Kämpfe und gebrochene
       Biografien. Und es geht um die Kraft, immer wieder aufzustehen. Hinter der
       Inszenierung steht Mizgin Bilmen, 1983 in Duisburg geboren, Tochter
       kurdischer Gastarbeiter:innen. Sie wuchs in Deutschland auf – fern der
       unmittelbaren Repressionen, die Kurd:innen in der Türkei seit Jahrzehnten
       erfahren. Und doch war der kurdische Widerstand stets Teil ihres Alltags:
       Gespräche am Küchentisch, Geschichten von Verwandten, die nicht in die
       Türkei zurückkehren konnten, die stille Traurigkeit einer Gemeinschaft im
       Exil. „Ich bin in Deutschland nicht verfolgt worden – nicht wie meine
       Cousinen oder Tanten in der Türkei. Aber der Kampf für Sichtbarkeit, für
       Würde, für Erinnerung war auch in meinem Leben präsent“, sagt sie.
       
       ## Frauen waren die treibende Kraft der kurdischen Geschichte
       
       Dass hier Frauen im Mittelpunkt stehen, ist kein Zufall. In der kurdischen
       Geschichte waren sie nie nur Leidtragende, sondern oft die treibende Kraft.
       Frauen hielten Sprache und Alltag lebendig, wenn Männer im Gefängnis saßen,
       organisierten geheime Schulen, führten die Amtsgeschäfte in den Dörfern
       weiter. Manche gingen selbst in den Untergrund – wie Sakine Cansız,
       Mitgründerin der PKK und bis heute Symbolfigur des Widerstands. Und
       spätestens seit der Schlacht um das syrische Kobanê 2014 haben auch die
       Bilder der YPJ-Kämpferinnen die Weltöffentlichkeit erreicht – rein
       weibliche Kampfverbände, die organisatorisch Teil der YPG sind, aber eine
       eigene Struktur haben. Junge Frauen, die gegen den IS in Syrien kämpften
       und deren Ruf „Jin, Jiyan, Azadî“ weit über Kurdistan hinaus zu einem
       Versprechen von Freiheit wurde.
       
       Für Bilmen ist dieses Stück eine Rückkehr: ein Dialog zwischen Diaspora und
       Herkunft. Sie will das, was fern der Heimat oft abstrakt bleibt, auf die
       Bühne bringen: das Körpergedächtnis, also wie Bewegungen ganze Geschichten
       erzählen können, für die es keine Worte gibt. Eine Technik, die auch in der
       Taumatherapie genutzt wird. Dabei gehe es ihr nicht um plakative Parolen,
       sagt Bilmen – sondern vielmehr um die Last von Geschichte, und um die Kraft
       der Frauen, sich immer wieder neu erfinden. Theater ist für mich immer
       politisch, auch wenn es nicht mit Schlagworten um sich wirft“, erklärt
       Bilmen. „Mich interessiert, wie Körper Erinnerung tragen, wie sie von
       Geschichte geprägt sind – und wie sie dadurch zu Zeugen werden.“
       
       Die Bewegungen auf der Bühne sind das Ergebnis einer alten Vertrautheit.
       Mizgin Bilmen und Berivan Sevgat verbindet seit ihrer Kindheit der Tanz.
       Die Choreografie haben sie gemeinsam entworfen: Sevgat schöpfte aus dem
       reichen Fundus kurdischer Tänze, Bilmen trug die Verantwortung für die
       künstlerische Gestaltung. Sevgats Biografie ist selbst Teil der kurdischen
       Geschichte von Flucht, Verboten und Widerstand.
       
       Sie war vier Jahre alt, als ihre Familie nach Deutschland fliehen musste.
       Es waren die 1980er und 1990er Jahre – eine Zeit harter Repression. Die
       kurdische Sprache war verboten, ganze Dörfer waren vom türkischen Militär
       niedergewalzt. Auch Sevgats Heimatdorf wurde besetzt, Soldaten marschierten
       ein, die Menschen wurden vertrieben. Sie war zwar noch ein Kind, doch sie
       könne sich an alles erinnern, sagt sie. Bis heute hat das damals Erfahrene
       für sie Konsequenzen: „Mein kurdischer Name steht nicht im Ausweis“, sagt
       sie.
       
       Kurdische Namen sind in der Türkei offiziell nicht anerkannt. Viele Kurden
       haben deshalb zwei: einen türkischen Namen, der im Ausweis steht, und einen
       kurdischen im Alltag. „Bei mir war es genauso“, erzählt Sevgat. „Mein Name,
       mein Geburtsdatum – nichts davon wurde akzeptiert. Sie machten meine
       Identität unvollständig.“
       
       Und gerade deshalb ist ihr die Arbeit in Diyarbakır wichtig. Für sie ist
       „Jîn – Jinên Azad“ nicht nur eine Choreografie, sondern Widerstand. Und der
       „zeigt sich im Tanz, in der Folklore, in der Kunst“, sagt Mizgin Bilmen.
       Und ergänzt: „Es ist eine Hommage an die Frauen, die gekämpft haben und das
       ist, was wir beitragen können.“
       
       Denn Worte konnten verboten werden, Bewegungen nicht. Sevgat bringt in der
       Choreografie von „Jîn – Jinên Azad“ die rohe, horizontale Kraft
       jahrhundertealter Tänze auf die Bühne: Schritte, die einst auf Dorfplätzen
       entstanden, verwandelt sie in Gesten von Trauer, Wut und Selbstbehauptung.
       „Mir war wichtig, dass Folklore nicht erstarrt, sondern erzählt, was uns
       heute bewegt“, sagt sie.
       
       Diyarbakır – auf kurdisch heißt die Stadt Amed – gilt seit Jahrzehnten als
       kulturelles Zentrum der Kurd:innen. Theater, Musik, Literatur: Hier waren
       sie nie nur Kunstformen, sondern Speicher des kollektiven Gedächtnisses,
       Orte des Widerstands, der Selbstbehauptung.
       
       Besonders einschneidend war das Jahr 2016. Nach dem gescheiterten
       Putschversuch nutzte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Krise, um seine
       Macht auszubauen. In Dutzenden kurdischen Städten setzte die Regierung
       Zwangsverwalter ein, die gewählte Bürgermeister:innen ablösten – ein
       massiver Einschnitt in die kommunale Selbstverwaltung. Auch die Kultur traf
       es unmittelbar: Das Diyarbakır Şehir Tiyatrosu, das Stadttheater, bekam aus
       Ankara die Order, die Türen zu schließen. Angestellte wurden entlassen,
       Strukturen zerschlagen. Über Nacht standen 33 Schauspieler:innen ohne
       Arbeit da – und eine ganze Stadt ohne ihre Bühne.
       
       In Diyarbakır sind es an diesem Augusttag nur noch wenige Tage bis zur
       Premiere, die Proben laufen auf Hochtouren. Berfin Emektar, Dramaturgin des
       Stücks, steht direkt vor dem Bühnenrand. Eine Schauspielerin beugt sich zu
       ihr, Stimmen hallen durch den Raum. Die grauen Gasbetonsteine liegen
       gestapelt im Hintergrund. Emektar trägt ein helles ärmelloses Oberteil mit
       Blumenmuster, dazu eine schlichte Stoffhose. Ihr Haar ist locker
       zurückgebunden, in der Hand hält sie ihr Handy. Während sie spricht, wirkt
       sie konzentriert, beinahe ernst, und zugleich nahbar.
       
       „Wir mussten bei null anfangen“, erinnert sich die Dramaturgin. Grund dafür
       war nicht nur die Absetzung der Ensemblemitglieder, sondern ein Bruch in
       der Politik: Zwischen 2013 und 2015 hatte es bereits Friedensgespräche
       zwischen der Regierung in Ankara und der kurdischen Untergrundorganisation
       PKK gegeben – vermittelt von der HDP (Demokratische Partei der Völker), der
       Vorgängerpartei der prokurdischen Partei DEM (Partei für Gleichheit und
       Demokratie des Volkes).
       
       PKK-Führer Abdullah Öcalan rief damals aus dem Gefängnis zum
       Waffenstillstand auf, Kämpfer der PKK begannen sich zurückzuziehen. Doch
       als der Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen im November 2015 Erdoğans
       AKP die absolute Mehrheit kostete, wurden die Gespräche abgebrochen. Die
       Gewalt kehrte zurück. Es folgten Militäroperationen, auch in Diyarbakır, wo
       ganze Stadtteile wie Sur zerstört wurden.
       
       ## Shakespeare auf Kurdisch: verboten
       
       Acht Jahre lang ging es auch für das Theater in der südostanatolischen
       Stadt schlicht ums Überleben: Stücke wurden in provisorischen Räumen
       gespielt, Auftritte wurden von den Zwangsverwaltern aus Ankara kurzfristig
       untersagt. Selbst Shakespeare auf Kurdisch fiel dem Verbot zum Opfer. „Es
       reichte, in einem Förderantrag das Wort Kurdî anzukreuzen – und er war
       erledigt“, erklärt Emektar.
       
       Erst seitdem die Stadtverwaltung 2024 wieder in die Hände der prokurdischen
       DEM überging, konnte das Stadttheater neu aufgestellt werden. Zuvor hatte
       Ankara nach einem gescheiterten Putschversuch des Militärs 2016 landesweit
       vor allem kurdisch gewählte Bürgermeister:innen ab- und
       Zwangsverwalter eingesetzt – auch in Diyarbakır. Damit wurden nicht nur
       politische Strukturen zerschlagen, sondern auch Kulturinstitutionen
       lahmgelegt.
       
       Viele Theatermacher:innen verloren ihre Stellen. Mit den
       Kommunalwahlen 2024 gelang der DEM zwar die Rückkehr in zahlreiche
       Rathäuser, doch diesmal verzichtete Erdoğan darauf, die
       Bürgermeister:innen sofort wieder abzusetzen – ein taktisches
       Zugeständnis nach den schweren Verlusten seiner Partei bei den Wahlen, das
       innenpolitische Risiken und internationale Kritik vermeiden sollte.
       
       Für die Kulturszene in Diyarbakır bedeutete das eine Atempause: Viele der
       2016 Entlassenen konnten zurückkehren, darunter auch Emektar. Doch sie
       betont, dass das Theater bis heute zweigleisig existiert: als kommunaler
       Spielbetrieb und zugleich weiter selbst organisiert, getragen von einer
       freien Szene, die gelernt hat, ohne den Staat zu überleben.
       
       Dass „Jîn – Jinên Azad“ gerade jetzt auf die Bühne kommt, ist kein Zufall.
       Während in Ankara über eine Verfassungsreform und einen möglichen neuen
       Friedensprozess verhandelt wird, setzen die Frauen von Diyarbakır ein
       künstlerisches und zugleich politisches Zeichen. Die Performance verhandelt
       und übersetzt, was in der Sprache der Politik abstrakt bleibt: Identität,
       Sprache, Würde, darum geht es hier. Auf der Bühne erzählen die Körper in
       Gesten und Rhythmen von Alltag und Zukunft, von Frauen, die nicht nur Opfer
       sind, sondern Gestalterinnen. Oder wie Dramaturgin Berfin Emektar es sagt:
       „Wenn schon die Waffen schweigen, dann muss unsere Sprache geschützt
       werden. Sonst ist es kein wirklicher Frieden.“
       
       Eine parlamentarische Kommission arbeitet derzeit an einer
       Verfassungsreform, die den Weg für einen dauerhaften Frieden bereiten soll.
       Die PKK, die Kurdische Arbeiterpartei, führte seit Anfang der 1980er Jahre
       einen bewaffneten Kampf – aus ihrer Sicht gegen die staatliche Repression.
       Aus Sicht des türkischen Staates war es ein jahrzehntelanger Aufstand. Im
       März 2025 erklärte die PKK einen Waffenstillstand, im Mai ihre Auflösung.
       Im Juli folgte ein nächster, symbolischer Schritt, als Kämpfer:innen im
       Nordirak ihre Waffen verbrannten.
       
       Der DEM geht es vor allem um vier Punkte in der Diskussion über eine
       Verfassungsänderung: um die Anerkennung der kurdischen Identität, um das
       Recht auf muttersprachlichen Unterricht, um die Stärkung kommunaler
       Selbstverwaltung und um eine Staatsbürgerschaft, in der Kurd:innen
       dieselben Rechte haben wie Türk:innen – ohne sich minderwertig fühlen zu
       müssen. Für viele Kurd:innen sind das Mindestbedingungen, um an eine
       echte Versöhnung glauben zu können.
       
       Doch die politische Lage ist ambivalent. Präsident Erdoğan plant eine neue
       Verfassung, mit der er seine Macht langfristig abzusichern gedenkt –
       insbesondere eine weitere Amtszeit nach 2028. Dafür ist er auf Zustimmung
       der DEM angewiesen: [1][Die AKP hat bei den letzten Wahlen Verluste
       hinnehmen müssen], viele Städte gingen bei den Kommunalwahlen 2024
       verloren, und die Opposition um die CHP ist jetzt stärker denn je. Die DEM
       könnte Erdoğan eine parlamentarische Mehrheit für seine Verfassungsänderung
       sichern und gleichzeitig die Oppositionsfront um die CHP schwächen.
       
       Nicht zuletzt zeigt sich dieser Plan in den [2][jüngsten Angriffen auf die
       CHP]: Die Polizei ließ die Parteizentrale in Istanbul räumen, während
       zugleich Rathäuser unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Die neue Allianz
       mit der DEM ist ein taktisches Spiel Erdoğans, das zeigt, wie eng in der
       Türkei Politik und kulturelle Zugeständnisse aktuell verwoben sind.
       
       Lange war es den Kurd:innen schlicht verboten, öffentlich über Repression
       durch den türkischen Staat zu reden. Bis heute ist die Angst vor den Folgen
       groß. Auf der Bühne in Diyarbakır aber finden diese Schicksale einen Raum.
       Jede Bewegung, jeder Atemzug, jede Stimme ist Teil einer Biografie, die
       zuvor unsichtbar blieb. Wenn eine Schauspielerin hörbar nach Luft ringt,
       wenn mehrere Körper ineinanderfallen und einer am Boden liegen bleibt, wenn
       Stimmen sich überlagern und schließlich in einen gemeinsamen Gesang münden
       – dann wird spürbar, wie persönliches Leid und kollektive Erfahrung
       ineinandergreifen.
       
       Es sind Bilder von Schmerz, aber auch von Zusammenhalt: Die Frauen tragen
       einander, sie lachen, sie schreien, sie stehen immer wieder auf. So
       verbindet das Stück individuelle Schicksale zu einer gemeinsamen Erfahrung,
       die das Publikum mitzieht. Und zugleich zeigt es die Sehnsucht nach
       Frieden, nach Sichtbarkeit, nach einem Leben, in dem Kurd:innen nicht nur
       in Aktenordnern und Verhandlungsprotokollen vorkommen.
       
       Was in den Gesten und Stimmen auf der Bühne spürbar wird, verdichtet sich
       im Gespräch mit der Darstellerin Rezan Kaya. Sie sitzt nach der Probe im
       Zuschauerraum, flechtet sich beiläufig ihr langes braunes Haar und nippt an
       einem Glas Tee. Für sie ist „Jîn – Jinên Azad“ nicht nur eine Aufführung,
       sondern eine Antwort auf Ankara. „Es ist wichtig, dass wir mit diesem Stück
       auch ein politisches Statement setzen“, sagt sie.
       
       Auf die Frage, wie sich Widerstand in ihrem Alltag zeigt, bleibt sie
       zurückhaltend. Zu persönlich möchte sie nicht werden. Aber sie erzählt,
       dass es viele Formen des Widerstands gebe. Im Moment sei es einfacher, ein
       Zeichen zu setzen, wie etwa mit diesem Theaterstück, erklärt sie in
       Anspielung auf den laufenden Friedensprozess. Die Regierung trete den
       Kurd:innen derzeit wohlgesinnter gegenüber.
       
       Während Kaya über Widerstand im Alltag spricht, wird klar, dass das Stück
       den Bogen von persönlichen Erfahrungen zu kollektiven Erinnerungen schlägt.
       Gleich zu Beginn des Stücks erklingt ein Brief von Leyla Zana, geschrieben
       an ihre Kinder 1995 hinter Gefängnismauern. Zana war die erste Kurdin im
       türkischen Parlament – und die Erste, die dort ein kurdisches Wort sprach.
       Dafür wurde sie zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ihre Briefe aber wurden zu
       Zeugnissen von Mut und Beharrlichkeit.
       
       Als ihre Stimme über die Lautsprecher im Theater von Diyarbakır ertönt,
       halten viele im Saal den Atem an. Ein Moment der Stille – dann brandet
       Applaus auf, laut, anhaltend, fast befreiend. Menschen springen von den
       Sitzen, klatschen, jubeln. Es ist ein kollektives Wiedererkennen, ein
       Erinnern an eine Frau, die für viele zur Stimme eines ganzen Volkes wurde.
       In diesem Augenblick verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, Biografie
       und Bühne.
       
       „Im Theater kann man mit den Toten reden – auch mit denen, die noch leben“,
       sagt Regisseurin Bilmen. Leyla Zana lebe selbstverständlich, betont Bilmen,
       aber ihre Anfänge dürften nicht in Vergessenheit geraten. Für sie ist Zana
       weniger eine historische Figur als ein Anfang, mit dem man im Dialog
       bleiben müsse: mit der politischen Geschichte, in die man hineingeboren
       wird, und mit den Erfahrungen der Menschen in der Diaspora, die von
       Mehrfachdiskriminierung geprägt sind. Da geht es etwa um das Aufwachsen als
       Kind kurdischer Gastarbeiter:innen in Deutschland, das nicht nur mit
       Rassismus im Alltag konfrontiert ist, sondern auch mit einem starken
       türkischen Nationalismus. Immer wieder kommt es deshalb zu Spannungen und
       offenen Auseinandersetzungen, zuletzt im Juli in Berlin, als kurdische und
       türkische Gruppen aufeinandertrafen und es zu einer Massenschlägerei kam.
       
       ## Heiner Müller und Pina Bausch
       
       Mizgin Bilmen sitzt still im Zuschauerraum, ein Notizbuch auf den Knien.
       Sie spricht leise, fast tastend, über ihre Arbeit. Heiner Müller sei für
       sie wichtig gewesen, erzählt die Regisseurin, und auch Pina Bausch – nicht
       wie man sich bewegt, sei entscheidend, sondern was einen bewegt. „Für mich
       war es wichtig zu zeigen, dass diese Frauen nicht auf ihre Wunden reduziert
       sind“, sagt sie. „Sie können tanzen, sie können lachen, sie können kämpfen
       – und sie bestimmen selbst, welche Geschichte erzählt wird.“
       
       Immer wieder denke sie an den Satz des Dramaturgen Carl Hegemann: „Erobert
       euer Grab!“ Früher habe sie das als künstlerische Provokation verstanden,
       heute bedeute es für sie, sich die eigene Geschichte zurückzunehmen – nicht
       nur zu trauern, sondern sich das Leben zurückzuholen, im Tanz, in der
       Kunst, im Aufbegehren. In der Türkei „diese Sprache im öffentlichen Raum
       und dann auch noch in Kombination mit Kunst zu verwenden, ist schon ein
       großer Akt des Widerstands“.
       
       Nach der Premiere steht Bilmen selbst auf der Bühne, flankiert von den
       Schauspielerinnen. Applaus brandet auf, es gibt Standing Ovations. Bilmen
       wirkt erschöpft und bewegt zugleich. Neben ihr halten die Frauen einander
       fest, während aus dem Saal erneut der Chor aufsteigt: ‚Jin, Jiyan, Azadî!‘
       Der Ruf, mit dem dieser Abend begann, hallt jetzt noch lauter zurück: als
       kollektives Versprechen, als politische Botschaft, als Sehnsucht nach
       Frieden.
       
       12 Sep 2025
       
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