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       # taz.de -- Debütalbum von Hyperpopkünstler Mechatok: Offline ist das neue Online
       
       > Popmetropole London: Dort ist der Münchner Produzent Mechatok inzwischen
       > zu Hause und haut mit „Wide Awake“ ein schillerndes Debütalbum raus.
       
   IMG Bild: Ja, Merci Mausi: Mechatok
       
       Social Media macht depressiv, Streamingdienste fluten ihre Plattformen mit
       KI-Musik und lassen Künstler:innen verhungern. Gibt es ein Licht am Ende
       des Pop-Tunnels oder fährt bald alles gegen die Wand? Anfang der 2010er
       Jahre sah das noch anders aus. Es gab damals Zukunftsvisionen.
       
       Eine kleine internationale Szene stand für musikalischen Aufbruchsgeist,
       der keine Präsenz an einem bestimmten Ort mehr voraussetzte. [1][PC Music,]
       Drain Gang, Lotic, [2][Charli XCX] waren die Namen jener Stunde. Oder der
       Musiker Mechatok aus München.
       
       Aus München? Ja, ganz genau. Mechatok, der eigentlich Emir Timur Tokdemir
       heißt und 27 Jahre als ist, stellt ein Bindeglied dieser Szene dar.
       Wahrscheinlich die letzte Musikszene, die das Internet noch als utopischen
       Raum und Vertriebskanal verstanden hat und noch immer im aktuellen
       Pop-Zeitgeist nachwirkt. Mechatok hat mit all den vorher genannten
       Künstlern Musik gemacht. Doch vieles hat sich seither verändert.
       
       ## Post-Internet-Art
       
       Sein Freund, [3][der schwedische Rapper Yung Lean], hat als Trotzreaktion
       und radikalen Akt der Selbstentblößung gerade ein knapp 600 Seiten
       umfassendes Buch mit seinen iPhone-Fotos der letzten Dekade veröffentlicht.
       Man könnte das vielleicht Post-Internet-Art nennen. Digitales wird wieder
       haptisch: ausgedruckte Selfies und Urlaubsfotos. Vielleicht, um sich gegen
       die Insta-Nutzung zu schützen? Mechatok dagegen versucht nun, mit einem
       Album gegen den hyperbeschleunigten Musikmarkt der Gegenwart anzuarbeiten.
       Aber von vorn.
       
       In Mechatoks anonymem Freundeskreis Anfang der zehner Jahre vernetzten sich
       noch alle online auf Plattformen wie Soundcloud, morphten Sounds zusammen.
       Eine digitale Szene, die später auch in persona auf denselben Partys
       zwischen Berlin und London aufeinandertraf. Oder wie Mechatok, es
       formuliert: „Es war wie ein cooler Wilder Westen.“
       
       Als er Teil davon wird, ist er gerade 14, erholt sich von einer intensiven
       Gitarrenausbildung und streng beurteiltem Vorspielen in einer Jugendgruppe
       der Münchner Philharmoniker. „Konservativ, fast wie ein Fußballverein“, so
       fasst er diese musikalische Ausbildungszeit und Findungsphase zusammen.
       
       ## Versteckt hinter Avataren
       
       Im digitalen Nischenpopkosmos sind Alter, Geschlecht und Aussehen dagegen
       egal. Regeln gibt es keine, Abo-Modelle und Paywalls auch nicht. Viele
       Künstler:Innen verstecken sich hinter Avatar-Profilbildern. Es entstehen
       immer neue Subgenres, die Witchhouse oder Cloudrap getauft werden, Hyperpop
       oder Deconstructed Club Music.
       
       Extrem kreative Zeiten, es klirrt und klackert und man hört noch den Jubel
       darüber, dass jegliche Musik digital frei zugänglich und damit auch
       samplebar ist. Und Mechatok? Der saugt all das von München aus auf und
       macht munter mit. Heute sagt über diese Frühzeit retrospektiv: „Von den
       Erfolgen hat sich erst mal nichts ins richtige Leben übertragen. 300.000
       Klicks bei Soundcloud, aber in der Schule blieb alles schön wie immer.“
       
       In München gab es damals ohnehin nur wenig Raum für die digitale
       Avantgarde. Lediglich ein Kurator des Münchner Kunstvereins habe Mechatok
       und seine internationalen Freund:innen manchmal für Vernissagen gebucht
       und dann oberkörperfrei auf Ecstasy zu ihrer Musik getanzt.
       
       ## Einlaufmusik für Wrestlingshows
       
       Die bayerische Landeshauptstadt hat Mechatok dann so bald wie möglich
       Richtung Berlin verlassen, ist weiter nach Amsterdam gezogen, für ein
       Kunststudium, und sitzt inzwischen in London. In der britischen Hauptstadt
       hat der Künstler Soundtracks für Games und Einlaufmusik für Wrestlingshows
       komponiert und Soundinstallationen für Kunstausstellungen kreiert. Das
       Schaffensspektrum ist groß.
       
       Sein Debütalbum „Wide Awake“ ist ebenfalls vor Ort entstanden. Auch das
       beschäftigt sich mit einem Avatar, seinem eigenen: Mechatok. Nachdem er in
       den letzten Jahren vor allem den musikalischen Unterbau für seine Freunde
       wie den schwedischen Emo-Songwriter Bladee geliefert hat, steht der eigene
       Avatar nun im Fokus.
       
       Über London, die Weltmetropole, die er hassliebt, sagt er: „Hier ist der
       kreative Wettbewerb intensiver, nonstop. Alle kommen ständig mit neuen
       Ideen um die Ecke. So stressig und negativ dieser spätkapitalistische Vibe
       in London ist, schafft er doch auch eine harsche Umwelt, die abgefahrene
       Sachen provoziert.“
       
       ## Im Uber durch London
       
       Abgefahrene Sachen wie Mechatoks Soloalbumdebüt also, dessen Songs, so sagt
       er, aber trotzdem auf einer Fahrt in einem Uber-Taxi im Radioprogramm von
       BBC 6 laufen könnten, denn in Großbritannien herrsche ein anderes, freieres
       Pop-Verständnis als in Deutschland.
       
       Wie also klingt so eine musikalische Taxi-Fahrt? Um Mechatoks Hyperpopsound
       zu verstehen, muss man genauer auf seine Prägung schauen. Da erklingen
       akustische Gitarren, aber auch die elektronisch grundierten Subgenres
       blinken auf. [4][Da mischt im Geiste einer seiner ersten Mentoren mit: der
       italienische Produzent und bildende Künstler Lorenzo Senn]i. Senni ist
       Meister darin, in seiner der Trance nahen Musik auf einen Höhepunkt
       hinzuarbeiten, in sich immer weiter auffächernden Synthesizer-Melodien ganz
       ohne Drumsounds. Doch der Höhepunkt kommt nie.
       
       Ein musikalisches Tantra eine sinästhetische Qualität, die auch Mechatok in
       einigen seiner Songs aufgreift. Und noch etwas eint Mechatok mit seinem
       Mentor Senni: Für die Komposition der elf Songs auf „Wide Awake“ hat er
       seinen Instrumentenpark verschlankt und setzt bewusst auf einen einzigen
       Synthesizer und holt aus diesem einen Gerät alles raus, was möglich ist.
       Mechatok hatte den „Acess Virus TI Snow“-Synthie einst bei einem Mitschnitt
       eines Madonna-Konzerts entdeckt und nachgekauft.
       
       ## Ultrabeschleunigt, quietschig-fidel
       
       „Wide Awake“ ist nun der geglückte Versuch, den Eklektizismus des
       Online-Wilden-Westens in einem weitestgehend instrumentalen Pop aufgehen zu
       lassen. Es schlurft schöner krachiger House; es wummert der frühe, noch
       nicht überkommerzialisierte Dubstep-Sound der Nullerjahre; es blitzt der
       ultrabeschleunigte, quietschiege Hyperpop durch. „Everything! Now!“,
       skandiert einmal eine Stimme, und die trifft es gut. Mechatoks Album „Wide
       Awake“ ist eine allumfassende Gleichzeitigkeit von zeitgenössischen
       Popgenres.
       
       Im Fokus der Musik stehen dabei immer die Harmonien. Experimentalsound habe
       ihn nie so sehr interessiert, sagt Mechatok. Seinem Popverständnis nach
       solle man einen Song auch dann sofort wiedererkennen, wenn man ihn auf
       einem Klavier oder mit der Gitarre nachspielt. „Wide Awake“ ist nun eine
       Sammlung schöner Melodiepartikel, in denen Sounds des letzten Jahrzehnts
       zusammenfließen und zwischendurch verzerrte Stimmen von alten
       Freund:innen reinglitchen.
       
       In der Musik von Mechatok kann K-Pop aufblitzen, Vocoder-Techno von Chris
       Korda [5][oder die kompositorische Raffinesse einer Micachu]. „You don’t
       exist“, singt die honduranische Sängerin Isabella Lovestory immer wieder
       auf dem gleichnamigen Song und stellt die existenzielle Frage: Wer bin ich?
       
       Die Antwort ist interessant. Während in der Online-Subkultur der zehner
       Jahre Avatare in der öffentlichen Wahrnehmung von den Personen dahinter
       entkoppelt waren, findet gerade ein Wandel statt. Vor allem in London.
       Stichwort Post-Internet. Die Kunstfigur Mechatok und der Künstler Emir
       Tokdemir werden eins. Und er erzählt davon, dass bereits die nächste
       Generation, die sich auf ihn und seine Freunde bezieht – Figuren wie
       Fakemink oder Esdeekid –, gar nicht mehr nur digital unterwegs ist.
       
       „London hat eine große Studiolandschaft. Szenen, Freundeskreise,
       Musiker:Innen kommen in Kellern zusammenkommen, die sich sonst maximal
       im Club treffen können“, sagt er. „Man läuft sich die ganze Zeit über den
       Weg, gemeinsame Musik entsteht nicht mehr online, sondern offline im
       direkten Austausch.“
       
       Eine begrüßenswerte Tendenz und die willkommene Gegenbewegung zur
       grassierenden Vereinzelung. Mechatok und seine Freunde zeigen sich
       iPhone-Fotos jetzt wahrscheinlich lieber im Studio, als sie zu posten. Dann
       braucht es in zehn Jahren auch kein Fotoalbum mehr.
       
       4 Sep 2025
       
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