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       # taz.de -- „Herbst der Sozialreformen“: Alle wollen Geld vom Staat, wer will dafür zahlen?
       
       > Schwarz-Rot streitet, ob man Sozialleistungen kürzen oder Unternehmer und
       > Erben belasten soll. Warum der Sozialstaat nicht schlecht geredet werden
       > darf.
       
   IMG Bild: Lebensmittel in der Essensausgabe einer Tafel in Berlin
       
       Der Schlagabtausch kommt einem bekannt vor und genau das ist das Problem.
       Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) verkündet, der „Sozialstaat, wie wir ihn
       heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr
       finanzierbar“. SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil bringt
       Steuererhöhungen für Wohlhabende ins Gespräch. Steuererhöhungen? „No way,
       no chance“ kontert CSU-Chef Markus Söder, der im Gegenteil die
       Erbschaftssteuer „massiv senken“ will.
       
       Dass der vielbeschworene „Herbst der Reformen“ mit schnellen, tiefen
       Einschnitten kommt, ist kaum zu erwarten, denn bis Gesetze fertig sind,
       dauert es lange. Doch angesichts der künftigen Löcher im Bundeshaushalt und
       in den Sozialkassen ist der „Herbst der Sozialreformen“ gewissermaßen jetzt
       schon da. Er produziert Klischees – und viele Kommissionen.
       
       Bereits konstituiert hat sich eine Sozialstaatskommission unter Leitung von
       Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), die sich vor allem um Vereinfachungen
       bei Wohngeld, Kinderzuschlag und Bürgergeld kümmern soll. Eine geplante
       Kommission unter Leitung von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU)
       soll Vorschläge für Reformen im Gesundheitssystem entwickeln. Bereits
       getagt hat die Bund-Länder-AG zur Pflegereform [1][„Zukunftspakt Pflege“,]
       die sich mit einer Reform der Pflegeversicherung beschäftigt.
       
       Etwas mehr Zeit hat die Kommission, die sich mit der mittel- und
       langfristigen Reform der Rente befassen und laut [2][Koalitionsvertrag]
       erst bis 2027 Vorschläge unterbreiten muss.
       
       ## Ein Jahr Karenzzeit in der Pflege?
       
       Ein neues Gesetz zum Bürgergeld soll in Kürze vorgestellt werden.
       Sozialministerin Bas hat bereits angekündigt, dass künftig schon bei
       Nichterscheinen zu einem Termin im Jobcenter der Regelsatz deutlich gekürzt
       werden kann. Jeder erreichbare Job muss angenommen werden, ganz egal,
       welche Qualifikation vorliegt.
       
       Doch auch wenn dann ein paar Tausend Erwerbslose mehr wegen des Drucks aus
       den Jobcentern eine Arbeit aufnehmen sollten, löst das nicht die
       Finanzprobleme der Kranken-, Pflege- und Rentenkassen. Die immer älter
       werdende Bevölkerung, der teure medizinische Fortschritt und die
       schwächelnde Konjunktur sind größere Probleme für den Sozialstaat als der
       Bürgergeldbezug und die Fluchtmigration.
       
       Die Verteilungsfragen sind dabei nicht nur Fragen von reich und arm, sie
       stellen sich vielmehr direkt in den Mittelschichtmilieus. Es sind etwa
       Verteilungsfragen zwischen unterer Mitte, prekärer Mitte, abgesicherter
       Mitte, vermögender und erbender Mitte.
       
       Laut Bundesrechnungshof droht etwa in der Pflege ein langfristiges
       Finanzierungsloch von über 12 Milliarden Euro bis 2029. In der
       Pflege-Kommission wird die Einführung einer „Karenzzeit“ diskutiert, um
       Geld zu sparen. Dabei würden Menschen im ersten Jahr nach Feststellung der
       Pflegebedürftigkeit kein Geld von der Pflegeversicherung bekommen.
       
       Schon jetzt, wo die Eigenanteile für die Pflege stark gestiegen sind,
       berichten Patientenvertreter, dass mancherorts die ambulante externe Pflege
       heruntergefahren wird, wenn die privaten Eigenbeiträge zu hoch werden. Dann
       wird halt nicht mehr geduscht, die Inkontinenzvorlage seltener gewechselt,
       das Essen nur noch so hingestellt. Es droht die Verwahrlosung Hochaltriger
       mit Pflegebedarf und wenig Geld.
       
       Es geht in der Kommission zur Pflege aber auch um die Frage, ob Vermögende
       für die Versorgung selbst mehr bezahlen sollen und können. Soll man die
       steigenden Eigenanteile höher bezuschussen oder ist es akzeptabel, dass
       Wohlhabende auch ihr Geld und die eigene Immobilie einsetzen, um ihre
       Pflege im Falle der Gebrechlichkeit zu bezahlen? Eine höhere Belastung der
       pflegebedürftigen Vermögenden in den Mittelschichtmilieus bedeutet,
       Erbschaften zu schmälern, auf die der Nachwuchs gehofft hat.
       
       ## Knirschen bei der Reform der Gesundheitsversorgung
       
       Das Beispiel zeigt, wie heikel die Gratwanderung ist in der Frage von
       Steuern und höheren Abgaben einerseits und Kürzungen der Leistungen aus den
       Solidarsystemen andererseits. Die Mittelschichtmilieus müssen nur in den
       Spiegel gucken, um den Konflikt zu erkennen.
       
       Auch bei der Reform der Gesundheitsversorgung knirscht es. Die gesetzlichen
       [3][Krankenkassen] fordern ein Ausgabenmoratorium, sodass die Kosten nicht
       mehr höher steigen als die Einnahmen aus den Versicherungsbeiträgen. Der
       Bundesrechnungshof hat die Regierung aufgefordert, schnell ein Konzept zu
       erarbeiten, um die Finanzen der gesetzlichen Kassen zu stabilisieren. Sonst
       könnte die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben jedes Jahr um sechs bis
       acht Milliarden Euro wachsen.
       
       Im Gesundheitssystem wächst derzeit aber vor allem der Unmut der gesetzlich
       Versicherten: Sie bekommen im Gegensatz zu den privat Versicherten nur noch
       schwer Termine bei Fachärzt:innen. Wer auf der Terminplattform
       „doctolib“ das Kästchen „gesetzlich versichert“ ankreuzt, fühlt sich als
       Patientin zweiter Klasse, wenn der nächste Termin entweder gar nicht oder
       erst in drei Monaten zu buchen ist.
       
       Es ist bedauerlich, dass die privaten Kranken- und Pflegeversicherungen
       nicht indirekt am Solidarsystem beteiligt werden. Etwa durch einen
       Finanzausgleich zwischen den Privatenkassen mit meist gesünderen und den
       gesetzlichen Kassen mit kränkeren Patient:innen. Die SPD hatte einen
       solchen Ausgleich für die Pflege noch im Wahlprogramm stehen. Im
       Koalitionsvertrag ist davon keine Rede mehr.
       
       Um das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren, wären
       mehr Steuermittel nötig, was die Kassen zu recht fordern. Denn die
       gesetzlichen Krankenkassen, beziehungsweise deren Beitragszahler:innen,
       bezuschussen bisher mit rund zehn Milliarden Euro im Jahr die ärztliche
       Versorgung von Bürgergeldempfänger:innen, für die der Staat viel zu geringe
       Beiträge zahlt. Und sie finanzieren die kostenlose Mitversicherung von
       Familienangehörigen.
       
       Doch woher sollen neue Steuergelder kommen? Es wäre fair, die defizitären
       Sozialkassen durch die Erhöhung von Steuern auch auf Vermögen und
       Erbschaften zu unterstützen. In Familienunternehmen und in den höheren,
       vermögenden Mittelschichtmilieus wird mit vorzeitigen Überschreibungen und
       anderen Tricks die Steuerlast nach Erbschaften gemindert oder umgangen.
       Dieses ließe sich durch Gesetze einschränken. Doch Vorschläge für
       Steuererhöhungen, erst recht für Familienunternehmen, werden von
       Bundeskanzler Merz abgeschmettert, als hätte man Satan persönlich zu Hilfe
       gerufen.
       
       Lässt man die Finanzprobleme weiter ungelöst, müssten die Beiträge der
       Beschäftigten für die gesetzlichen Kassen erneut steigen. Das gilt aber als
       schädlich für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Denn damit sinkt nicht nur der
       Nettoverdienst der Beschäftigten, es erhöhen sich auch die Personalkosten
       für Unternehmen.
       
       Steigenden Lohnnebenkosten haben vor mehr als 20 Jahren die großen
       Sparrunden in Deutschland eingeläutet, weil Massenarbeitslosigkeit
       herrschte, die Konjunktur schwächelte und der Sozialstaat plötzlich als
       schlecht für die Wirtschaft galt. Einiges von diesem Diskurs des angeblich
       überbordenden Sozialstaats, der den Charakter verdirbt und der Wirtschaft
       schadet, könnte sich wiederholen.
       
       Es gibt zwar heute keine Massenarbeitslosigkeit, aber eine AfD, die die
       Regierung unter Druck setzt mit ihrer Hetze gegen migrantische
       Bürgergeldempfänger. Und soziale Medien mit ihren Algorithmen, die Empörung
       aufgreifen und verstärken und so die Spaltungen vertiefen.
       
       Dabei gilt noch immer wie auch schon vor mehr als 20 Jahren: Prozentuale
       Beiträge für die Sozialkassen, die einkommensabhängig anfallen, sind besser
       für Niedrigverdiener als verpflichtende private Zusatzversicherungen mit
       einheitlichen Prämien. Diese werden damals wie heute von einigen Experten
       zur Entlastung der Sozialkassen gefordert.
       
       ## Frickelige Fragen zur Gerechtigkeit
       
       Gerechtigkeitsfragen zwischen unterer und gehobener Mitte gibt es auch bei
       der Rente. Wenn eine Kommission zur Reform des Rentensystems zu dem Schluss
       kommen sollte, das Renteneintrittsalter langfristig auf 70 zu erhöhen, weil
       ja auch die Lebenserwartung steigt, dann sind Beschäftigte mit geringen
       Einkommen, häufig in Verschleißberufen, davon stärker betroffen als
       Höherverdienende oder Beamte. Die Lebenserwartung der Niedrigverdiener und
       damit die Dauer des Rentenbezugs ist kürzer als die Lebenserwartung von
       höher Verdienenden und [4][Beamt:innen] mit geistigen Tätigkeiten.
       
       Aufzehrende, erschöpfende Arbeiten mit Schichtdienst, hohem Workload und
       starker körperlicher und nervlicher Beanspruchung müssten zumindest den
       Vorzug des früheren Renteneintritts haben. Um diese Frage darf man sich in
       einer Kommission zur Zukunft der Rente nicht herumdrücken.
       
       Allerdings empfinden auch Besserverdienende verständlichen Unmut anlässlich
       der sogenannten Abbruchkanten der Sozialsysteme. Das Münchner
       [5][Ifo-Institut] hat errechnet, dass etwa ein Ehepaar mit zwei Kindern,
       dessen Bruttoeinkommen von 3.000 auf 5.000 Euro im Monat steigt, unter
       Umständen dann nur 100 Euro netto mehr im Monat zur Verfügung hat, weil mit
       steigendem Einkommen die Ansprüche auf Wohngeld und Kinderzuschlag sinken.
       Hier müssten die Anrechnungsraten geändert werden, auch damit befasst sich
       die Sozialstaatskommission.
       
       Gerechtigkeitsdebatten im Sozialstaat sind frickelig. Kein Wunder, dass es
       einfacher ist, die Schuld an der Finanzmisere Sündenböcken wie
       migrantischen Bürgergeldempfängern zuzuschieben, was ja das Geschäftsmodell
       ist der AfD.
       
       Das Bashing des Sozialstaats sollte besser enden, auch um die
       Abgabenbereitschaft zu retten. Der deutsche Sozialstaat ist eine
       schützenswerte Institution, im internationalen Vergleich hochgeachtet.
       
       Und hohe Abgaben in die Kollektivsysteme gehören nun mal dazu. Es kann
       nicht darum gehen, Beiträge und Steuern möglichst herunterzufahren und mit
       Leistungskürzungen die Loyalität zum Sozialstaat zu untergraben. Das ist
       eine Spirale nach unten.
       
       Es wäre ein guter politischer Move, die Geschichte anders herum zu
       erzählen. Also von den Errungenschaften zu reden, von dem im
       internationalen Vergleich immer noch auskömmlichen Gesundheitssystem, von
       der unentgeltlichen Bildung, der relativ billigen Kitabetreuung. Die
       schwarz-rote Koalition könnte darauf aufbauen und würde den politischen
       Raum nicht vollstopfen mit Schlagabtauschen, die abgenutzt wirken und keine
       neue gemeinsame Erzählung schaffen.
       
       5 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/P/Pflegereform/250707_Beschluss_BLAG_Zukunftspakt_Pflege.pdf
   DIR [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsvertrag-2025-2340970
   DIR [3] https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/presse/pressemitteilungen_und_statements/pressemitteilung_1991168.jsp
   DIR [4] /Oekonom-ueber-ungerechtes-Rentensystem/!6103247
   DIR [5] https://www.ifo.de/DocDL/sd-2024-01-bloemer-etal-lohnabstand.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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