# taz.de -- Neue Romane über Mutterschaft: Die Überforderung ist total
> Zwei aktuelle Romane beweisen, dass das Thema Mutterschaft noch lange
> nicht erschöpft ist: Antonia Baums „Achte Woche“ und Claire Kilroys
> „Kinderspiel“.
IMG Bild: Ein Kind kriegen – oder nicht? Jede Wahl ist endgültig
Es gibt diesen Moment: Ein Baby liegt auf einer Decke, irgendwo im Gras, in
einem irischen Wald. Die Mutter ist davongelaufen, einfach so. Für einen
Augenblick wirkt es, als sei dieses Verlassen ein Akt der Erlösung – für
das Kind. Und für die Mutter. Was wie ein Albtraum klingt, eröffnet Claire
Kilroys Roman „Kinderspiel“. Der Beginn einer literarischen Spirale ins
Innenleben einer jungen Mutter, die mit der Wucht ihrer Gefühle ringt.
Gefühle, die in den letzten Jahren viele Motherhood-Romane ins Zentrum
rückten. Kein Wunder. Die Geburt eines Kinds und das Muttersein sind
existenzielle Erlebnisse. Was im Leben ist ähnlich göttlich und zugleich
monströs?
Das Gleiche gilt für die bewusste Entscheidung gegen ein Kind – oder die
schmerzhafte Unmöglichkeit, eines zu bekommen. Hinzu kommt ein
gesellschaftliches Mutterbild, das wenig Platz lässt für Zweifel, Hadern
und Unsicherheiten, die unweigerlich dazugehören.
Erst seit wenigen Jahrzehnten nimmt die Literatur Mutterschaft ernst – und
zwei aktuelle Romane beweisen, dass das Thema noch lange nicht erschöpft
ist: „Achte Woche“ von Antonia Baum und „Kinderspiel“ der irischen Autorin
Kilroy. Beide beleuchten die Ambivalenz der Mutterschaft auf völlig
unterschiedliche Weise – der eine nüchtern-analytisch, der andere mit
sprachlicher Wucht.
## Jede Wahl ist endgültig
In Antonia Baums „Achte Woche“ geht es nicht um das Baby, das da ist,
sondern um das, das kommt. Oder nicht kommt. Die Protagonistin Laura ist
schwanger. Schon wieder. Einmal hat sie abgetrieben, einmal ein Kind
bekommen. Nun steht sie erneut vor der Entscheidung – und weiß: Es gibt
keine richtige. Jede Wahl ist endgültig, jede birgt das Risiko tiefer
Unzufriedenheit.
Laura arbeitet in einer Frauenarztpraxis, die auch Abtreibungen durchführt.
Die Parallele zwischen ihrer eigenen Entscheidung und denen der anonymen
Frauen, die täglich durch die Praxisflure gehen, weitet den Blick für
andere Leben, andere Schicksale.
Baum erzählt in knappen Szenen und Sätzen, die oft mehr andeuten als
aussprechen. Ihre Figuren reden selten viel, aber was sie sagen, hallt
nach. Etwa wenn Laura sich selbst beschreibt, erschöpft, stinkend, wie
„angespülte Algen in der Sonne“.
Der Roman springt zwischen Gegenwart und Erinnerung, zwischen Lauras Alltag
als Arzthelferin und ihrer Familiengeschichte. Er wechselt von nüchterner
Beobachtung zu existenzieller Reflexion, erzählt aus Lauras Perspektive.
## Kleine soziologische Studien
Baums Roman erinnert an [1][Sheila Hetis Roman „Mutterschaft“], in dem die
Protagonistin keine Mutter ist, aber sich unablässig die Frage stellt, ob
sie es werden soll – eine Frage, die für sie immer mehr zur
philosophischen, persönlichen und gesellschaftlichen Zumutung wird.
Doch wo Heti essayistisch bleibt, schreibt Baum narrativer. Ihre
Beschreibung der Patientinnen ähneln kleinen soziologischen Studien. Da
ist die 16-jährige Maha mit weißer Daunenjacke, hellbraun umrandeten Lippen
und von Wimpernextensions umkränzten Augen. Oder Amelia, unter deren Arm
Mutterpass, Versichertenkarte und ein Buch klemmt.
Claire Kilroy wählt einen anderen Zugriff: Während Baum mit distanzierter
Präzision erzählt, sucht Kilroy die emotionale Unmittelbarkeit. Ihre
Icherzählerin Soldier spricht in einem atemlosen Monolog zu ihrem Sohn
Sailor. Soldier will ihrem Sohn alles sagen, alles erklären – auch das
Unerträgliche.
Es ist, als rede sie gegen das Verstummen an, als kämpfe sie mit der
Sprache, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich zwischen Windeln
wechseln, stillen und Ehekonflikten auftut. „Ein Gutenachtkuss von
jemandem, der für dich töten würde, andere, sich selbst, von einer, die
sich schon getötet hat.“
## Rauschhafter Text
Kilroys Roman ist ein Rausch. Er schwankt zwischen poetischer Zärtlichkeit
und apokalyptischem Furor. Zwischen Autofahrten zur Schwiegermutter,
Einkaufsdramen im Möbelhaus und einer fieberhaften Nacht am Meer entfaltet
sich die fragile Innenwelt einer Mutter, die sich nicht mehr erkennt.
Es sind diese Widersprüche, die den Text so kraftvoll machen: Die Liebe zum
Kind ist bedingungslos – und genau das macht sie zerstörerisch. Soldier
will stark sein, retten, sich aufopfern – und träumt zugleich davon, alles
hinter sich zu lassen. In einer Szene geht sie so weit ins Watt, auf der
Suche nach dem Gefühl ihrer Jugend, dass sie beinahe ertrinkt – mit ihrem
Sohn im Arm.
Man liest diesen Text und denkt an [2][Rachel Yoders „Nightbitch“], in dem
eine Mutter sich in einen Hund verwandelt, weil es keine andere Sprache für
ihre neue Existenz gibt. Oder an Rachel Cusks „A Life’s Work“, diesen
schonungslosen Essayroman, der Mutterschaft als Kontrollverlust und
kulturelle Leerstelle beschreibt.
Auch Kilroy lässt ihre Figur durchdrehen, heulen, sich in einen Wolf
verwandeln, der nachts ziellos durch die Straßen streift. Die Überforderung
ist total. Und doch blitzt durch die Dunkelheit ein Abgrund an Liebe, der
alles zusammenhält.
Beide Romane eint der Mut zur Ambivalenz. Sie entwerfen keine Heldinnen,
keine Opfer, keine Vorbilder. Sondern Frauen, die hassen und lieben,
gebären und fliehen wollen. Die sich aufreiben an einer Gesellschaft, die
Mutterschaft als natürlich, intuitiv, selbstlos imaginiert – und dabei
systematisch entwertet. Beide zeigen, was Literatur kann: Komplexität
aushalten, ohne sie aufzulösen.
## Eindimensionale Männer
Schade nur, dass beide Romane ihren Männerfiguren diese Komplexität nicht
zugestehen. Kilroy differenziert hier noch eher. Auch Soldiers Ehemann
knallt sich lieber vor den Fernseher und glotzt Fußball, statt seiner
Ehefrau beim Versorgen des gemeinsamen Kinds zu helfen. Doch klingt immer
wieder durch, dass sie ihm gar nicht zutraut, den gemeinsamen Sohn richtig
zu versorgen. Auch die Nähe zwischen den beiden ist nicht gänzlich
erloschen. Es bleibt ein Rest von Intimität, eine Ahnung von Verbundenheit.
In „Achte Woche“ hingegen geraten die Männer nur noch zum Klischee. Lauras
Vater, ein von seiner Karriere besessener Jurist, mokiert sich über dicke
Frauen, die er als „Tonnen“ bezeichnet, und verteidigt einen mutmaßlichen
Vergewaltiger. Ihr Ex-Freund Aram fliegt am Tag der Abtreibung nach
Singapur zur Bitcoinkonferenz.
Raum für Überraschungen oder Komplexität wird den Männern in beiden Romanen
nicht wirklich zugestanden. Das mag eine bewusste Umkehrung
jahrhundertelanger Klischees weiblicher Figuren sein. Im Vergleich zur
psychologischen Genauigkeit, mit der die Frauenfiguren gezeichnet werden,
liest es sich dann aber doch eher als Leerstelle.
Zugleich ist auffällig, dass die literarische Reflexion über Mutterschaft
fast ausschließlich aus einem bestimmten Milieu stammt: weiß, urban,
Mittelschicht. Wer darf zweifeln, wer darf hadern – und wessen Erfahrungen
bleiben unsichtbar? Auch das steht als stiller Subtext in diesen Büchern.
30 Sep 2025
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Verena Harzer
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