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       # taz.de -- Vulnerable Stromnetze: „Wir müssen Resilienz von Anfang an mitdenken“
       
       > Der tagelange Blackout war für ihn ein Fingerzeig: Die Stromnetze sollten
       > „inselfähig“ werden, fordert Philipp Blechinger vom Reiner Lemoine
       > Institut.
       
   IMG Bild: Vulnerabler Punkt getroffen: Der beschädigte Mast in Berlin
       
       taz: Herr Blechinger, woran forschen Sie? 
       
       Philipp Blechinger: Ich beschäftige mich mit der deutschen Energiewende,
       mit Strom, Wärme und der Integration erneuerbarer Energien in die Netze,
       habe aber auch den internationalen Blick. Mich interessieren vor allem
       „Inselnetze“ – geografische Inseln, aber auch sogenannte Strominseln wie
       entlegene Dörfer, die sich energetisch selbst versorgen, oder
       Industrieparks.
       
       taz: Was hatten Sie im Blick? 
       
       Blechinger: Im globalen Süden habe ich durch Forschungs- oder
       Beratungsprojekte viel in Nigeria gearbeitet, wo es ein großflächig
       ausgebautes Netz gibt, das aber sehr unzuverlässig funktioniert. Von dort
       kenne ich gut die Situation, dass man in einem Workshop sitzt, und
       plötzlich flackert das Licht, der Beamer geht aus, die Klimaanlage
       verabschiedet sich. Aber dann hört man im Hintergrund dieses „Wumm, wumm,
       wumm“: Überall werden die Dieselgeneratoren angeworfen, die kleinen in den
       Läden an der Straße und die großen in Büros oder Hotels. Nach ein paar
       Minuten ist alles wieder hochgefahren. Das war jetzt in Berlin natürlich
       anders.
       
       taz: Wie haben Sie [1][den Blackout in Berlin] erlebt? 
       
       Blechinger: Als ich vergangenen Dienstag ins Büro geradelt bin, hatte mich
       die Nachricht vom Stromausfall noch nicht erreicht. In Adlershof fielen mir
       nach und nach die ausgefallenen Ampeln auf, dann standen überall Leute vor
       den Gebäuden, die Läden waren dunkel. Ich bin trotzdem ins Büro gegangen,
       normalerweise dauert so was ja höchstens eine Stunde. Wir wurden aber nach
       und nach alle nach Hause geschickt. Spannend für mich war, dass vor unserem
       Bürogebäude irgendwann auch ein Dieselgenerator ansprang, also ein
       vertrautes Geräusch für mich. Der gehörte aber nur zum Supermarkt im
       Erdgeschoss. Ich nehme an, dass der damit seine Kühlung aufrechterhält.
       
       taz: Die Saboteure, die den Stromausfall im Berliner Südosten hervorgerufen
       haben, [2][wussten offenbar genau, was sie tun]. Wie anfällig ist denn so
       ein Großstadtnetz generell? 
       
       Blechinger: Allzu konkret kann ich das nicht sagen, es handelt sich
       schließlich um ein Frage der Sicherheit. Mit dieser Begründung werden auch
       uns am Institut oft Netzdaten vorenthalten, die wir abfragen, um Planungen
       für Energiesysteme zu machen. Da ist natürlich auch was dran. Generell
       gilt: Es gibt Punkte im Netz, die man mit relativ geringem Aufwand und
       großer Wirkung stören kann.
       
       taz: Welche sind das? 
       
       Blechinger: Unser Netz hat verschiedene Spannungsebenen. Ganz unten haben
       wir die Verteilnetze, an denen nicht allzu viele Abnehmer hängen. Wird der
       Übergang von der Mittelspannung zu einem solchen Verteilnetz gestört,
       erwischt es vielleicht wenige hundert bis einige tausend Haushalte. Dazu
       kommt, dass die Verteilnetze besonders im städtischen Raum eine hohe
       Redundanz haben, soll heißen: Wenn ein Teil des Netzes ausfällt, übernimmt
       ein anderes. Und dann gibt es vor allem in Städten das 110-kV-Netz, das ist
       die Schnittstelle zwischen der Hochspannungsebene und den städtischen
       Verteilnetzen. Die war Ziel dieses Anschlags.
       
       taz: Und davon waren nicht nur ein paar tausend Menschen betroffen. 
       
       Blechinger: Am 110-kV-Netz hängen ungleich mehr Abnehmer. Es gibt außerdem
       weniger Redundanzen. Wenn jemand weiß, wo die Kabeltrassen verlaufen und
       die Umspannwerke stehen, kennt er die verwundbaren Punkte des Systems.
       Detailpläne sind nicht frei zugänglich, aber vieles lässt sich im Gelände
       oder in amtlichen Unterlagen nachvollziehen. Für präzise Angriffspunkte
       braucht es genaueres Wissen, wie spezifische Netzpläne. Aber es sind auch
       deutlich mehr als drei Leute in Deutschland, die so etwas wissen.
       
       taz: Und die Folgen können dramatisch sein. 
       
       Blechinger: Auf jeden Fall. Als Zwischenfazit könnte man sagen: Wir haben
       keine Möglichkeit, unsere Netze hundertprozentig sicher zu machen. Diese
       kritische Infrastruktur ist nicht so leicht zu schützen. Deshalb muss man
       über Optionen nachdenken, wie man auf solche Ereignisse reagiert. Wir
       hatten im Institut gerade damit angefangen, über Konzepte nachzudenken, wie
       man Verteilnetze vom übergeordneten Netz abkoppelt und in den Inselbetrieb
       geht. Ironischerweise wurden wir jetzt von den Ereignissen überholt.
       
       taz: Beschreiben Sie doch mal, was so ein Inselbetrieb ist. 
       
       Blechinger: Sie können sich das für ein Einfamilienhaus leicht vorstellen:
       Da kann ich mein eigenes Inselnetz mit einer Photovoltaik-Anlage auf dem
       Dach und einem Speicher im Keller herstellen. Fällt dann der Strom aus,
       kann ich mich in Maßen selbst versorgen. Voraussetzung ist, dass ich einen
       Schalter habe, um mein Haus vom Netz zu trennen, sonst schaltet sich die
       PV-Anlage aus Sicherheitsgründen ab.
       
       taz: „In Maßen“ heißt? 
       
       Blechinger: An einem sonnigen Frühlingstag kann ich ohne Weiteres meinen
       Kühlschrank betreiben, und für die Kommunikation reicht es auch. Wenn es
       ein trüber Januartag ist und ich eine Wärmepumpe habe, wird es schon
       schwierig, dann reicht die Batterie vielleicht ein, zwei Stunden, bis ich
       im Kalten und Dunkeln sitze. Trotzdem gilt, dass ich auf Haushaltsebene die
       Resilienz gegenüber Stromausfällen erhöhen kann – und das gilt auch für ein
       ganzes Verteilnetz. Da bräuchte es ebenfalls Speicher in jedem Verteilnetz,
       am besten auch PV-Anlagen, vielleicht auch ein Blockheizkraftwerk.
       
       taz: Aber auch da wäre je nach Jahreszeit und Wetter irgendwann Schluss. 
       
       Blechinger: Richtig, die Problematik ist dieselbe. Aber wie im
       Haushalts-Inselnetz, wo ich etwa aufs Kochen verzichten würde, damit die
       Wärmepumpe länger laufen kann, muss ich dann solche Entscheidungen für ein
       Verteilnetz treffen können. Dann braucht es Strategien, welche Abnehmer in
       einem Inselnetz privilegiert werden. Etwa bestimmte Schutzräume wie
       Schulen, in denen allgemeine Anlaufstellen eingerichtet werden, oder
       Altenheime, die vielleicht kein Notstromaggregat wie ein Krankenhaus haben.
       Ein weiterer Vorteil wäre, dass ich mit den einzelnen Strominseln
       gleichzeitig die Last im gesamten betroffenen System reduziere, wodurch es
       leichter wieder hochzufahren ist. Dafür bräuchte es aber die technische
       Infrastruktur und die rechtlichen und regulatorischen Voraussetzungen, die
       es ermöglichen, Verbraucher einzeln an- oder abzuschalten.
       
       taz: Erhöht es die Resilienz, dass immer mehr Strom dezentral erzeugt wird? 
       
       Blechinger: Es kann einen positiven Effekt haben. Resilient sind wir dann,
       wenn wir Redundanz haben. Wenn etwa ein einzelnes großes Kraftwerk
       wegfällt, ist diese ganze Leistung weg. Auf der anderen Seite war man aus
       konservativer Sicht mit einer Ölheizung besser dran, denn solange der Tank
       voll ist, kommt man damit in jedem Fall über den Winter. Das ist ja das
       Narrativ, das vielen Angst macht: Vielleicht können wir nicht mehr heizen,
       weil alles Strom braucht! Aber mit guter Planung und den entsprechenden
       Speichern können wir auch ein dezentrales Stromsystem resilient machen. Die
       Anfälligkeiten zeigen sich gerade, weil wir mit der Energiewende erst auf
       halbem Weg sind.
       
       taz: Hat die Stromnetz Berlin GmbH das Thema Resilienz nicht auf dem
       Schirm? 
       
       Blechinger: Ich kann das diesem konkreten Netzbetreiber nicht unterstellen.
       Aber man muss wissen, dass die Betreiber der Verteilnetzebene regulierte
       Monopolisten sind und über die sogenannte Anreizregulierung funktionieren.
       
       taz: Was bedeutet das? 
       
       Blechinger: Dass sie gewisse Ausgaben geltend machen können, die dann aus
       den Netzentgelten refinanziert werden. Der regulatorische Rahmen sieht aber
       die Inselnetz-Fähigkeit bisher nicht ausdrücklich als vergütungsrelevante
       Maßnahme vor. Würden die jetzt – vereinfacht gesagt – an vielen Stellen
       Schalter einbauen, um das Netz inselfähig zu machen, bekämen sie das nicht
       bezahlt. Aktuell würde das auf reiner Freiwilligkeit basieren und wäre wohl
       ein Verlustgeschäft. Die Frage, wie man mit Stromausfällen einer solchen
       Größenordnung umgeht, ist im Moment kein entscheidendes Kriterium – man
       setzt stärker auf Effizienz und Kostenreduktion.
       
       taz: Ändert sich das nun? 
       
       Blechinger: Es ist ein brennendes Thema: Im April hatten wir den
       landesweiten Stromausfall in Spanien, es gibt immer mehr Herausforderungen
       im Betrieb, die Netzkapazitäten werden nicht schnell genug ausgebaut, und
       wir haben durch den Klimawandel zunehmende Wetterextreme.
       
       taz: Was müsste die Politik jetzt tun? 
       
       Blechinger: Sie muss definieren, was alles kritische Infrastruktur ist.
       Resilienz muss in der Gesamtplanung ein wichtiges Kriterium werden, da
       braucht es die entsprechende Regulierung und Anreize bei der Vergütung. In
       Berlin wollen wir vom Institut jetzt Kontakt zu den
       Katastrophenschutzbeauftragten aufnehmen und vorschlagen, das
       durchzurechnen und zu planen. Natürlich wollen wir nicht, dass jede Klinik
       drei Dieselgeneratoren bekommt, die Busse weiter mit Verbrennungsmotoren
       fahren und Wärme nur über Gas erzeugt wird. Wir wollen immer mehr
       Erneuerbare nutzen, Batteriespeicher ausbauen und beides schaffen: ein
       erneuerbares und resilientes Energiesystem.
       
       taz: Stichwort Busse: Der BVG-Chef hat vor Kurzem in der taz gesagt, mit
       Blick auf Katastrophenszenarien wolle er eben nicht die komplette Flotte
       elektrifizieren. 
       
       Blechinger: Den Punkt, dass im Notfall vielleicht schnell 100.000 Leute
       irgendwohin evakuiert werden müssen, sehe ich. Aber den Widerspruch erkenne
       ich nicht. Wenn wir perspektivisch alle Busse elektrifizieren, bauen wir
       gleichzeitig eine völlig neue Ladeinfrastruktur auf. An vielen
       Betriebshöfen entstehen schon heute große Ladeanlagen, teils ergänzt um
       Batteriespeicher, die Lastspitzen abfedern. Wenn das einmal flächendeckend
       umgesetzt ist, haben wir eine ganz andere Ausgangslage: Im Krisenfall
       könnte diese Infrastruktur genutzt werden, um zumindest einen Teil der
       Flotte über einen gewissen Zeitraum weiterzubetreiben. Das ist kein
       garantierter 24-Stunden-Notbetrieb für alle Busse, sondern eher ein
       Hinweis, dass Elektromobilität auch Resilienzpotenziale mit sich bringt –
       wenn man sie von Anfang an mitdenkt.
       
       14 Sep 2025
       
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