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       # taz.de -- Jazz-Musiker Hermeto Pascoal ist tot: Eleganz des Bauchgluckerns
       
       > Der brasilianische Multiinstrumentalist Hermeto Pascoal ist gestorben.
       > Sein Erfindungsreichtum prägte auch den US-Jazz. Ein Nachruf.
       
   IMG Bild: Hermeto Pascoal: eigenwilliger Visionär
       
       Für Caetano Veloso war Hermeto Pascoal „einer der Höhepunkte in der
       Musikgeschichte Brasiliens“, für Miles Davis sogar der „beeindruckendste
       Musiker auf dem Planeten“. Pascoal spielte Piano, Akkordeon, alle Arten von
       Flöten, Saxofon, Drums – etwa auf Davis’ Album „Live/Evil“. [1][Zugleich
       setzte er in seiner Musik gerne Gebrauchsgegenstände ein, Spielzeuge], ja
       sogar eine Herde Hausschweine, die er für sein Soloalbum „Slaves Mass“
       (1976) ins Studio holte und dabei ihr Grunzen und Quieken aufnehmen ließ.
       
       Für das Werk „Hermeto brincando de corpo e alma“ (2013) verwendete er
       ausschließlich von seinem Körper erzeugte Klänge, klatschte und klopfte
       sich auf den Bauch und nutzte seine Barthaare als Saiten. „Das Gluckern von
       Wasser oder der Klang eines Synfonieorchesters, all das ist Musik“, verriet
       Hermeto Pascoal der New York Times. „Also bin ich immer umgeben von Musik.“
       Am 13. September starb er in Rio de Janeiro.
       
       Geboren wurde Hermeto Pascoal Oliveira da Costa 1936 in Olho d’Agua das
       Flores, einer ärmlichen Siedlung im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas.
       Seine Eltern waren Landarbeiter und erließen ihm aufgrund seines Albinismus
       die Pflicht, ihnen bei der Arbeit zur Hand zu gehen. Zu Hause beschäftigte
       er sich mit seines Vaters Akkordeon. Schon als Zehnjähriger verdiente er
       sich Geld, [2][indem er als Akkordeonist von einer dörflichen
       Forró-Tanzveranstaltung zur nächsten reiste].
       
       ## Zur Bossa-Blüte in Rio
       
       Ende der 1950er ging er nach Rio, nahm einen Job beim Orchester eines
       Radiosenders an und tingelte durch die Clubs des im Bossa-Nova-Boom
       aufblühenden Nachtlebens. 1964 lernte er den Percussionisten Airto Moreira
       kennen und gründete mit ihm das Quarteto Novo, dessen einziges Album
       weltweit als eines der Werke des brasilianischen Jazz verehrt wird.
       
       Wie so viele andere Brasilianer*innen verließ Airto Moreira Ende der
       1960er Jahre, als der Repressionsapparat der Militärjunta immer brutaler
       wurde, das Land und versuchte sein Glück in den Vereinigten Staaten. Der
       Zeitpunkt war damals gut gewählt, denn die US-Jazzszene war gerade dabei,
       sich außeramerikanischen Einflüssen zu öffnen. Airto wurde Studiomusiker,
       schließlich holte ihn Miles Davis in seine Band.
       
       Alsbald fing Airto an, Miles zu nerven, dass der unbedingt seinen Freund
       Hermeto kennenlernen müsse. Zeitgleich bearbeitete er Hermeto, er müsse
       unbedingt in die USA kommen. [3][Schließlich ging der Plan auf und Hermeto
       wirbelte tatsächlich Staub auf in der US-Jazzszene]. Airto verschaffte ihm
       einen Plattenvertrag und produzierte 1970 sein Debütalbum, auf dem ihn etwa
       Thad Jones und Ron Carter begleiteten.
       
       ## Feinschliff in Brasilien
       
       Doch Hermeto war nur mäßig beeindruckt vom Jazz und den USA, reiste bald
       zurück nach Brasilien und nutzte seinen neu gewonnenen Status, [4][um
       nunmehr seiner eigenen Vision den Feinschliff zu geben und sie mit einer
       handverlesenen Musikerschar zu verwirklichen]. Auf den nun in
       unregelmäßigen Abständen veröffentlichten Alben präsentierte er sich nicht
       nur als einzigartiger Virtuose, sondern vor allem auch als Komponist und
       Arrangeur, der die unterschiedlichen Sounds souverän miteinander zum
       Schwingen brachte.
       
       Er verlangte seinen Mitspieler*innen das Äußerste ab, ließ ihnen aber
       Raum. Die Leichtigkeit und die Eleganz, mit der er in seinen Stücken
       dissonante Harmonien und kinderliedhafte Melodien, vertrackte Rhythmen in
       krummen Zählzeiten und Forró-Tanzbeats miteinander verschmolz, bewirkten
       dabei auch, dass seine Musik immer zugänglich blieb.
       
       Gelegentlich veredelte er auch noch Werke von brasilianischen Stars wie
       Elis Regina, Edu Lobo und Joyce mit seiner einzigartigen Musikalität. Und
       obwohl einige seiner Kompositionen wie „Bebê“, „Chorinho pra ele“ und „Nem
       um talvez“ mittlerweile zu regelmäßig gecoverten Jazzstandards geworden
       waren, verkündete er 2008 auf seiner Website, dass er von nun an auf seine
       Copyrights verzichtet und Musiker in aller Welt seine Kompositionen ohne
       Vergütung spielen dürfen.
       
       Bis zuletzt gab Hermeto Pascoal Konzerte mit seiner Band, die über die
       Jahrzehnte zur Großfamilie geworden war. Einige Musiker*innen spielten
       seit den 1970er Jahren mit und mitunter taten dies auch deren Kinder. Sein
       langjähriger Bassist Itiberê Zwarg sagte: „Bei einem Konzert mit Hermeto
       lerne ich mehr als in einem mehrjährigen Musikstudium.“
       
       15 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Konzertempfehlung-fuer-Berlin/!5640192
   DIR [2] /Hermeto-Pascoal-ueber-Musik/!5213503
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=n_sDYPbiwMA
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=O3q1WNArobw&list=RDO3q1WNArobw&start_radio=1
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
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