# taz.de -- Interaktives Theater: Aufklärung ist harte Arbeit
> Das Theaterkollektiv Polyformers untersucht die Zunahme rechtsextremer
> Positionen unter Jugendlichen. Mit „Radikal Jung“ gehen sie von Berlin
> aus auf Tour.
IMG Bild: Florenze Schüssler und Valentin Kleinschmidt rappen einen Mix, den sie aus rechtsradikalen Songtexten collagiert haben
Es ist ein ungewöhnlicher Einstieg für einen Theaterabend. Noch bevor er
richtig beginnt, werden die rund 80 Zuschauenden in vier Gruppen
aufgeteilt. Ein junger Mann spricht eine Triggerwarnung wegen
rechtsextremer Inhalte aus. Vielleicht 20 Menschen sitzen kurz darauf in
einem kleinen Raum, rundum auf Bänke verteilt, wo ein Mann und eine Frau
sich als Valentin und Florenze vorstellen.
Die beiden gehen auf Seelenfang, wollen etwas verkaufen, rein ideell, indem
sie Tarnidentitäten anpreisen, die auf Buttons gedruckt sind. Es gibt
klangvolle Namen wie ostmulle_tok oder rätselhafte Abkürzungen wie DJV oder
DST, die für Accounts beziehungsweise Gruppierungen aus der rechtsextremen
Szene stehen. Am Ende des Abends kann ich Button und Tarnidentität wieder
abgeben und in einen bereitgehaltenen Müllsack werfen. Danke.
„Radikal jung“ heißt das jüngste Projekt des Berliner Theaterkollektivs
Polyformers, das vergangenen Freitag im Berliner Theater unterm Dach
Premiere feierte. Polyformers macht Dokumentar-, kein Mitmachtheater, es
geht in den Dialog, ohne jemanden vorzuführen. Die Stimmung am
Premierenabend ist neugierig, offen, wohlgesonnen. Das könnte bei einer der
geplanten Schulaufführungen im ländlichen Sachsen-Anhalt oder Brandenburg
anders sein.
Nicht zum ersten Mal setzt sich die Gruppe um Regisseur Fabian Rosonsky mit
dem Thema Rechtsextremismus auseinander. Frühere Produktionen widmeten sich
den [1][Reichsbürgern] oder der [2][rechtsextremen Bewegung Anastasia],
doch auch DDR-Geschichte stand schon auf dem Spielplan. „So ein Stoff wie
‚Königreich Deutschland‘ war nur dokumentarisch zu bewältigen“, erklärt
Fabian Rosonsky, der mit Sarah Methner und Lene Gaiser die Projekte
gemeinsam entwickelt.
## Wirkmächtige Tarnidentitäten
Man ist beim Dokumentarischen geblieben, die Wirklichkeit scheint das
Theater immer wieder einzuholen oder zu überholen. Im Mai 2025 wurden fünf
junge Männer wegen Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung
verhaftet, sie waren zwischen 14 und 18 Jahren alt. Ihr Name: [3][„Letzte
Verteidigungswelle“] – wieder so ein wirkmächtiger Name.
Während Florenze und Valentin Tarnidentitäten mit ebenso bizarren oder
verheißungsvollen Namen anpreisen, melden sich mal skeptisch, mal neugierig
die Zuschauenden und nehmen einen der Buttons in Empfang. Dann wird die
Zuschauergruppe, die neue Identität ans Hemd geheftet, in einen weiteren
Raum geführt, wo sie Lorris empfängt. Der Schauspieler fragt in die Runde:
„Wisst ihr überhaupt, dass ihr Teil einer Gruppe geworden seid? Und wollt
ihr etwas über diese wissen?“ Fotos und Posts aus ihren Chatkanälen werden
an die Wand projiziert.
Wie schnell es geht, über soziale Medien eingelullt und agitiert zu werden,
ist das eigentliche Thema von „Radikal jung“. Rechtsextreme Positionen,
Verschwörungsmythen und Hatespeech haben besonders bei jungen Menschen
großen Zulauf, man rekrutiert im Netz, formiert und formatiert sich dort.
Das Theater ist ein analoges Medium, kann es gegen diese virtuellen
Verführungsstrategien halten? „Radikal jung“ ist ein didaktisches
Theaterprojekt, das ein junges Publikum braucht, das nicht von Anfang an
Bescheid weiß oder mit allem einverstanden ist.
## Jugendliche legen Einspruch ein
Damit es nicht von oben herab wirkt, wenn Mittdreißiger den Digital Natives
etwas über die Auswirkungen der sozialen Medien oder die Gefahren des
Rechtsextremismus erzählen, startete Polyformers einen Aufruf, dass sie
Jugendliche zum Mitspielen suchen. Sie heißen in Berlin Jannes Bent
Bothmann, Sebastian Köbler, Jessica Lauraté Boemigan und Mio Steigleder.
Sie fungieren als Kommentatoren, die ihre persönliche Ebene einbringen,
ihre eigenen Ängste und Visionen formulieren. Und wenn ihnen die drei
professionellen Schauspieler:innen davongaloppieren, in ihren Rollen
als rechtspopulistische Influencer zu sehr auftrumpfen, können sie auf die
Stopptaste drücken und Einspruch einlegen. Wortwörtlich.
Valentin Kleinschmidt propagiert als [4][Evangelikaler Enthaltsamkeit] –
von Pornos als auch von Medien, wobei er zugleich um Likes für seinen
Youtube-Kanal bittet. Florenze Schüssler gibt das Tradwife, das sich dem
Backen, ihrer Familie und dem Antifeminismus verschrieben hat. Lorris
Blazejewski spielt den erfolgreichen Unternehmer, der im cleanen Dubai
sitzt und Geld als Freiheit deutet.
Geschickt jonglieren die drei mit Argumenten und Gegenargumenten,
Widersprüche inbegriffen. Später rappen sie einen Mix, den sie aus
rechtsradikalen Songtexten collagiert haben, dann Auftritt Florenze als
madonnenhafte Germania im Glitterkleid, die die zwei Jungs Liegestütze
machen lässt. Das wirkt grell, überzeichnet, auch wenn der Rap auf
Originaltexten und -videos basiert.
## Interaktives Format mit Stärken
Mal teilen sich die Gruppen auf, mal kommen alle im Theatersaal zusammen.
Welchem der Influencer wollt ihr folgen, fragen die Jugendlichen. Ich folge
Florenze, der Brownie Queen, die in ihrem Monolog immer ausfälliger wird
und ihren Kuchen hasserfüllt unter den Fingern zermalmt. „Was geht Ihnen
dabei durch den Kopf?“, fragt sie anschließend in den Zuschauerkreis. „Eine
„Wiederkehr altbekannter Muster“ sieht eine Zuschauerin. „Man muss sich
fragen, warum sich junge Menschen an traditionellen Familienbildern
orientieren“, wirft ein Zuschauer ein. „Wie lange müsste ich zuhören, bis
es in mich eindringt“, sagt eine Frau nachdenklich. An dieser Stelle zeigt
das interaktive Format seine Stärken.
„Es geht mir auch darum, die Figuren zu verstehen“, sagt Florenze Schüssler
in einem Vorgespräch. Es findet drei Tage vor der Premiere statt. „Ich muss
meine Figur nicht mögen, aber ich will sie verstehen. Das ist die
Herausforderung.“ „Das Digitale hat einen unglaublichen Einfluss“, sagt ihr
Kollege Lorris Blazejewski. Das Theater dagegen signalisiere: Lasst uns
reden, lasst uns austauschen.
Doch wie bekommt man es hin, dass man gesellschaftliche Wirklichkeit nicht
nur abbildet, sondern eine Gefühls- und Erkenntnisebene schafft? Wie
informiert, wie klärt man auf, ohne zu belehren? „Ich war sehr froh, als
die Jugendlichen dazukamen“, sagt Regisseur Fabian Rosonsky. „Sie haben
ihre Texte selber geschrieben.“ An jedem neuen Spielort will Polyformers
neue Mitspieler:innen gewinnen, das Stück wird sich verändern.
In Berlin ist es lehrreich, unterhaltsam, manchmal etwas pathetisch, aber
das geht in Ordnung. Die Jugendlichen haben das letzte Wort. Mio steht
allein auf der Bühne, zurückgekehrt von einer Zeitreise aus dem Jahr 2060.
„Theater war mein Safe Space“, sagt er rückblickend auf das Jahr 2025, auf
heute. „Seid nicht still, kämpft für euch! Kämpft für uns!“
16 Sep 2025
## LINKS
DIR [1] https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/infopool-rechtsextremismus/555722/reichsbuerger-innen-im-theater-entzaubern/
DIR [2] https://www.polyformers.de/anastasia
DIR [3] /In-Altdoebern-werden-Teenager-festgenommen-Wie-konnten-sie-sich-so-radikalisieren/!6095453
DIR [4] /Homophobe-evangelische-Christen/!5961680
## AUTOREN
DIR Sabine Seifert
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