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       # taz.de -- Lang leben mit Wunderpillen: Das Longevity-Imperium
       
       > Ein langes Leben dank Mittelchen und Wunderpillen: Diese Mär gefällt
       > nicht nur den Herstellern, sondern auch Oligarchen und Diktatoren.
       
   IMG Bild: Noch dieser Smoothie, dann bin ich unsterblich!
       
       Vor Kurzem trafen sich der russische Präsident Wladimir Putin und Chinas
       Staatschef Xi Jinping öffentlichkeitswirksam in Peking, um der Welt die
       Macht Chinas und anderer autoritärer Staaten zu demonstrieren.
       
       Darum soll es an dieser Stelle allerdings nicht gehen. Sondern um ein
       Gespräch, das die beiden Staatenlenker am Rande einer Militärparade führten
       und das aufgrund eines angeschalteten Mikrofons mitgehört werden konnte.
       
       Die beiden 72 Jahre alten Herren tauschten sich darüber aus, wie jung sie
       eigentlich noch seien. Xi merkte an, dass man früher mit 70 noch als alt
       gegolten habe, heute in diesem Alter hingegen fast jugendlich sei. Und
       Putin erklärte, „mit der Entwicklung der Biotechnologie“ könnten
       „menschliche Organe kontinuierlich transplantiert werden“, wodurch „die
       Menschen immer jugendlicher leben und sogar Unsterblichkeit erlangen“
       könnten. Aus dem Mund zweier Diktatoren klingt so etwas recht gruselig.
       
       ## Langlebigkeit im Trend
       
       Dabei liegen die beiden Senioren voll im Trend. Denn von Longevity – dem
       langen und gesunden Leben – ist in diesen Zeiten überall die Rede. In
       Artikeln, in Podcasts, im Fernsehen, auf YouTube, in den sozialen Medien.
       Den Weisheiten, was man tun muss, um so alt wie möglich zu werden, ist
       nicht zu entkommen. Und auch das ist ziemlich gruselig.
       
       Denn die Suche nach dem ewigen Leben ist in erster Linie der Spiegel von
       Gesellschaften, in denen Jugend, Schönheit, Kraft und Gesundheit das Maß
       aller Dinge sind. Die popkulturelle und gesellschaftliche Obsession von
       Gesundheit suggeriert außerdem, dass Longevity allein eine Frage des
       individuellen Verhaltens sei.
       
       Meistens laufen die Ratschläge auf Ähnliches hinaus: sich gesund ernähren
       (wer es sich leisten kann), nicht übermäßig Alkohol trinken [1][(kein
       Problem, zumindest im Januar)], gut und regelmäßig schlafen (wow, danke für
       den Tipp), gut mit Stress umgehen können (alles klar), körperlich aktiv
       sein (sobald die Kinder aus dem Haus sind), positive soziale Beziehungen
       pflegen (nichts leichter als das, kostet ja nicht viel Zeit), nicht von
       Opioid-Schmerzmitteln abhängig sein (braucht man nicht, wenn alles andere
       top läuft).
       
       Diese Ratschläge ergeben sich aus einer kürzlich veröffentlichten
       US-Studie, in der die Forscher:innen zum Ergebnis kamen, dass Menschen
       ihr Leben um mehr als 20 Jahre verlängern können, wenn sie diese Tipps
       befolgen.
       
       ## Keine Frage des guten Willens
       
       Weil es aber sehr schwierig ist, den Schlaf von heute zu morgen auf „gut“
       umzustellen oder immer im Bioladen einzukaufen, wenn man bei mittlerem
       Einkommen zwei Kinder ernähren muss, Nachhilfeunterricht bezahlen möchte
       und vielleicht auch mal zu verreisen wagt, ist Longevity keine Frage des
       guten Willens. Lang und gesund zu leben, ist das Ergebnis eines
       lebenslangen Prozesses. Es vereinigt die Arbeit an Geist, Körper und Seele
       und hängt von unzähligen äußeren Faktoren ab.
       
       Allein in Deutschland beträgt der Unterschied der [2][Lebenserwartung von
       Menschen mit niedrigen und Menschen mit hohen Einkommen laut
       Robert-Koch-Institut] mehr als zehn Jahre. Longevity ist nicht das Ergebnis
       einzelner Veränderungen oder gar eines Nahrungsergänzungsmittels oder
       irgendwelcher Health-Shakes.
       
       Zu den äußeren Faktoren für ein langes und gesundes Leben zählen eine gute
       Gesundheitsversorgung und -aufklärung, niedrige Schadstoffwerte in der
       Luft, eine weitgehende Gleichheit in der Vermögens- und
       Wohlstandsverteilung, gute Bildungschancen für alle Kinder, niedrige
       Armutsquoten, geringe Kriminalitätsraten, günstige Lebenshaltungskosten,
       sauberes Grundwasser, gute Wohn- und Lebensverhältnisse. Die Liste ist
       lang. Um die Verhältnisse für alle Menschen zu verbessern, braucht es
       weitaus mehr als den neuesten Proteinshake.
       
       ## Profit durch Lügen
       
       Es braucht Staaten und Regierungen, die sich ihrer Verantwortung bewusst
       sind. Und Unternehmen, die Menschen für den eigenen Profit nicht Lügen über
       Longevity verkaufen. Weil dieser Weg aber steinig und hart ist sowie
       Gesundheit als Allgemein- und nicht als Individualgut voraussetzt, gibt es
       stattdessen an allen Ecken und Enden Ratschläge, wie man seinen Körper
       optimieren kann.
       
       Immer mehr teure Mittelchen, Pillen und Verjüngungskuren sollen den
       Eindruck erwecken, als gäbe es den einen richtigen Weg, um gesund zu
       altern, und als sei dies der Maßstab eines erfolgreichen Lebens. Menschen
       mit Erkrankungen oder Behinderungen, Menschen, die nicht jung, schön und
       reich sind, gelten als Versager in diesem komplett absurden System. Sie
       haben es einfach nicht geschafft.
       
       ## Das Longevity-Imperium
       
       Aufrechterhalten wird diese Erzählung durch ein ganzes Imperium an
       Unternehmen, Start-ups und [3][Influencer:innen], die vermeintliche
       Geheimnisse über Longevity für viel Geld verkaufen. In den USA ist diese
       Szene eng mit der MAHA-Bewegung (Make America Healthy Again) von
       Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. verbunden.
       
       Eine ganze Armee von Healthinfluencer:innen verkauft ihre Smoothies
       und Bücher darüber, was man alles tun müsse, um gesund zu leben. Eine der
       berühmtesten von ihnen ist Vani Hari, besser bekannt als „The Food Babe“,
       die ihren 2,3 Millionen Follower:innen auf Instagram recht klumpig
       aussehende, aber wohl supergesunde Smoothies aus Eigenproduktion andreht.
       
       Eine der höchsten Beraterinnen von RFK Jr., die Ärztin Casey Means, sagte
       einmal im Podcast des bekannten Hosts Joe Rogan: „Wer metabolisch gesund
       war, starb nicht an Covid.“ Derweil feuert RFK Jr. Hunderte Angestellte in
       den Gesundheitsbehörden, denn wer braucht den Staat, wenn es auch ein
       Smoothie tut?
       
       Dass Oligarchen wie der US-Techmilliardär Peter Thiel oder Diktatoren wie
       Putin und Xi vom ewigen Leben träumen und die eigene Sterblichkeit als
       ultimative Demütigung empfinden, verwundert nicht. Sie scheinen ihr Leben
       als vollendeten Erfolg zu verstehen, der niemals enden darf. Der Blick
       solcher Personen auf Longevity zeigt die Absurdität dieses Konzepts. Es
       sollte bei Longevity nicht nur um gesundheitliche Optimierung und um
       Verlängerung gehen. Sondern um viel mehr als das.
       
       17 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Junge-Menschen-und-Alkohol/!5907331
   DIR [2] https://www.gbe.rki.de/DE/Themen/Gesundheitszustand/Krankheitsfolgen/LebenserwartungUndTodesursachen/Lebenserwartung/lebenserwartung_node.html?darstellung=0&kennzahl=1&zeit=2021&geschlecht=1&standardisierung=0
   DIR [3] /Politik-auf-Social-Media/!6111258
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gilda Sahebi
       
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