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       # taz.de -- Neuer Kinofilm „Der Tiger“: Selbstbegegnung eines Ostfront-Täters
       
       > Dennis Gansel wirft das Publikum in die tiefen Abgründe des 2.
       > Weltkriegs: Es ist ein interpretationsfähiger Antikriegsfilm mit Stärken
       > und Schwächen.
       
   IMG Bild: Ringt mit seiner Schuld: Leutnant Gerke (gespielt von David Schütter)
       
       Die Exposition verspricht eine Konfrontation mit einigen der grausamsten
       Momente des Weltenbrandes: [1][Handlungsort ist die Ostfront], kurz nach
       der Schlacht von Stalingrad. Für einen ersten, intensiven, Moment der
       Immersion sorgt das Gefechtsgeschehen auf einer brennenden Brücke: Die
       Zuschauer*in wird eingesperrt, zusammen mit der Besatzung, in die
       beklemmende Enge eines Wehrmachts-Panzers – der titelstiftende „Tiger“.
       
       Für eine Vorstellung der gezeigten Besatzung bleibt keine Zeit: Wir sehen
       fünf Männer in ein und derselben Nahtoderfahrung. Ausweglosigkeit, Enge und
       Platzangst übertragen sich beängstigend eindrucksvoll. Ein sehr gelungener
       Einstieg.
       
       Nach „Napola – Elite für den Führer“ (2004) und [2][„Die Welle“ (2008)] –
       und dann gab es auch noch seine Beteiligung an der TV-Neubearbeitung von
       „Das Boot“(2022/23) – hat sich Regisseur Dennis Gansel neuerlich an die
       deutsche Geschichte begeben. Und wieder sucht der gebürtige Hannoveraner
       nah heranzukommen an die, die mitmachen in einem System wie dem
       Nationalsozialismus.
       
       „Ich habe unter anderem mit echten Besatzungsmitgliedern des Tiger-Panzers
       geredet, die mir von ihren Kriegserfahrungen berichtet haben“, sagt Gansel
       der taz. „Oral History, sozusagen.“ Das selbst gesetzte Ziel: ein Blick in
       die Psyche der Soldaten und ihre inneren Konflikte.
       
       ## Reise durch die Lebenslüge einer Generation
       
       Der Film kommt ohne klassische Dramaturgie und ohne greifbaren roten Faden
       aus. Was ihn zum einen angenehm unvorhersehbar macht, aber streckenweise
       auch irritierend. Es ist der unzuverlässig erzählte Gang eines
       Wehrmachtsoffiziers durch ein Fegefeuer von Erinnerung und Schuldgefühl.
       Die Traktion, die die Handlung aufnimmt, gleicht dabei den Panzerketten des
       Tigers selbst; langsam, behäbig, aber unausweichlich vorwärts in Richtung
       finaler Konfrontation.
       
       Der Weg dahin ist aber nicht linear vorgezeichnet. Etwa in der Mitte des
       rund zweistündigen Films bleibt die Fahrt kurz im Matsch stecken, muss
       mühsam per Hand wieder freigeschaufelt und wieder in Fahrt Richtung Ende
       gebracht werden: Eine längere Sequenz allzu gleichförmiger, wortlos
       aufeinander folgender Close-up-Einstellungen will einfach nicht
       ineinandergreifen mit einem radikalen Umbruch der gezeigten Gruppendynamik
       und dem beginnenden Zusteuern auf das Ende.
       
       Der Weg zum Finale ist dann etwas holperiger geraten, schlussendlich kommt
       aber auch die Handlung ins Ziel – und der Film zu seinem Höhepunkt: der
       unausweichlichen Gewissheit der eigenen Schuld. Des Versagens aller
       Verdrängungsmechanismen, wodurch sich der unvermittelten und ehrlichen
       Auseinandersetzung nicht ausweichen lässt.
       
       Getragen wird die Erzählung vom Zerbrechen aller Kompensationsstrategien
       entlang des zunehmend gebetsmühlenartiger vorgetragenen Glaubenssatzes:
       „Wir hatten keine Wahl, wir haben nur Befehle befolgt.“ Gelungen ist die
       ambivalente, auch schauspielerisch gut umgesetzte Auseinandersetzung mit
       dieser im Protagonisten Leutnat Gerke (David Schütter) reifenden
       Überzeugung. Und den nicht ins Gegenteil zu verkehrenden Schluss: „Aber die
       Verantwortung!“
       
       ## Kriegsverbrechen aus Sicht der Täter
       
       Eben diese verhandelt der Protagonist mit sich selbst. Den beanspruchten
       direkten Einblick in Gerkes Psyche gewährt der Film dann allerdings nicht.
       In Sequenzen wortloser Einkehr dürfen die Zuschauer*innen die Stille
       selbst mit Inhalt füllen. Ein Stilmittel, das anfangs gut funktioniert,
       dann allerdings doch zu oft bemüht wird und deutlich an Effekt verliert.
       Etwas weniger reine Projektionsfläche hätte hier gutgetan.
       
       Was völlig fehlt: die Perspektive der Opfer von SS und Wehrmacht. Solche
       Szenen seien gedreht worden, so Gansel, aber nicht verwendet – „weil der
       Ansatz der Erzählweise durch solche Brüche nicht mehr funktioniert hätte“.
       Der Film bleibt täterzentriert, bei der Wahrnehmung der Soldaten. Braucht
       es wirklich nochmal zwei Stunden Film, die illustrieren, wie sich
       Befehlsträger der Wehrmacht eine Opfer-Haltung schaffen?
       
       Wäre die Empathie [3][bei den zivilen Opfern des Vernichtungskrieges], bei
       Müttern und Kindern, nicht besser aufgehoben? Die explizite Grausamkeit
       geschieht off-screen: Bei einigen der besonders schrecklichen Gräueltaten
       durch SS-Männer, sagt der Regisseur, wäre es „geradezu voyeuristisch
       gewesen, diese Nähe abzubilden“.
       
       Die Stärke des Films liegt vor allem in der unvermittelten Deutlichkeit,
       mit der die kriegsertüchtigte Jugend vor eine besonders harte Wahrheit von
       Kriegen gestellt wird: Nicht nur die [4][Kombattanten] sind dein Ziel. Hier
       musst du Mütter zusammen mit ihren Kindern töten, ohne ihnen dabei in die
       Augen zu gucken. Die historische Genauigkeit, mit der die Exzesse der SS
       dargestellt wurden, ist bemerkenswert.
       
       Eine ehrliche Konfrontation mit der Schuld unserer Großväter und
       Urgroßväter.
       
       18 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-Deutschen-und-der-Krieg/!6059911
   DIR [2] /Mitlaeufertum-im-deutschen-Film/!5185304
   DIR [3] /Ueberfall-auf-die-Sowjetunion-1941/!5777525
   DIR [4] https://www.rosalux.de/news/id/51288/im-krieg-ist-nicht-alles-erlaubt
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lennart Sämann
       
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