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       # taz.de -- Buch zur Polarisierung der Gesellschaft: Polarisiert sind immer die anderen
       
       > Der Soziologe Nils Kumkar betrachtet die Polarisierung: Als
       > Gesellschaftsdiagnose taugt sie wenig, als politische Strategie ist sie
       > oft erfolgreich.
       
   IMG Bild: Wo Unversöhnlichkeit vermutet wird, ist manchmal schlicht Kommunikation nicht geglückt
       
       Als Hubert Aiwanger 2023 eine Rede auf einer Demonstration gegen das
       sogenannte Heizungsgesetz hielt, adressierte er sein Publikum als die
       „Vernünftigen“. Die hätten an diesem Tag zwar „mit Sicherheit etwas
       Besseres zu tun“, so der Vorsitzende der Freien Wähler und stellvertretende
       bayerische Ministerpräsident. Doch angesichts der übergriffigen,
       linksgrünen Politik aus Berlin müssten sie sich die Demokratie zurückholen.
       In seinem Appell bezog sich Aiwanger auf eine kuriose Gruppe: auf die
       „Bauern, Handwerker, Mittelständler, Hausbesitzer, Autofahrer,
       Fleischesser“.
       
       Aiwangers Rede steht exemplarisch für den Versuch, über die unversöhnliche
       Darstellung eines politischen Gegners aus disparaten Gruppen eine
       Gemeinschaft zu schaffen. Polarisierende Mobilisierungsstrategien sind aber
       selbstverständlich kein Alleinstellungsmerkmal der Rechten, sondern in
       allen politischen Lagern zu finden. Sie sind auch historisch nichts Neues –
       und immer wieder sind sie erfolgreich. Offen jedoch will sich kaum jemand
       zu solch einer Strategie bekennen: Polarisierer, das sind immer die anderen
       – die Unvernünftigen, die Spalter, die Systemfeinde, gegen deren
       zersetzenden Einfluss man sich zum Wohl des Zusammenhalts und der
       gesellschaftlichen Einheit wehren müsse.
       
       Paradoxerweise ist die Gesellschaftsdiagnose „Polarisierung“ in der
       deutschen Öffentlichkeit ungeheuer präsent. Andererseits lässt sich eine
       polare Aufteilung der Gesellschaft in feindliche Großgruppen in den
       Einstellungen der Bevölkerung empirisch gar nicht beobachten. Diesen Befund
       haben der Soziologe Steffen Mau und seine Kollegen in ihrem Bestseller
       [1][„Triggerpunkte“] anschaulich dargestellt. Höchste Zeit also, das
       Phänomen der Polarisierung einmal grundlegender in den Blick zu nehmen.
       Nils Kumkars Buch kommt daher zur rechten Zeit. In seinem Essay
       „Polarisierung“ denkt der Bremer Soziologe darüber nach, was es bedeutet,
       in einer Gesellschaft zu leben, die sich irgendwie für polarisiert hält –
       und genau darüber enorm viel redet und schreibt.
       
       Ähnlich wie Kumkars Erstling „Alternative Fakten“ (2022) ist
       „Polarisierung“ vor allem ein Buch über den gesellschaftlichen Diskurs. Es
       thematisiert dessen Unlogiken und Verzerrungen – mit Ironie, aber ohne
       einen hämischen Gestus der Entlarvung. Kumkar erarbeitet in seinem Buch
       weder eine umfassende Theorie der Polarisierung, noch spürt er ihr in
       umfangreichen Detailuntersuchungen gesellschaftlicher Teilsysteme oder
       Subphänomene nach. Kumkar selbst versteht seinen Essay als
       „Lockerungsübung“. Das gelingt ihm über weite Strecken, trotz seiner
       dichten, vorraussetzungsreichen Argumentation.
       
       ## Polarisierung in Meinungsstücken herbeischreiben
       
       Den Begriff der „Polarisierung“ versteht Kumkar nicht als gefestigte
       Einstellung von Einzelpersonen oder gesellschaftlichen Gruppen, sondern als
       kommunikatives Ordnungsmuster. Dieses Muster diene der Vereinfachung und
       werde in bestimmten Situationen von Politiker*innen, Journalist*innen
       oder in den sozialen Medien aufgegriffen und in Szene gesetzt. Das wiederum
       werde in Echtzeit oder anschließend von anderen beobachtet und in Bezug auf
       den beliebten Deutungsrahmen der „Polarisierung“ diskutiert. Für Kumkar ist
       der Polarisierungsdiskurs auch Ausdruck einer sich stark selbst
       beobachtenden Gesellschaft. Das erzeugt, wie Kumkar mit Verweis auf
       soziologische Studien zeigt, immer wieder sich selbst verstärkende Effekte.
       
       So etwa, wenn Journalist*innen die Polarisierung in Meinungsstücken
       regelrecht herbeischreiben; oder wenn Medienmacher*innen
       Talkshowsendungen so besetzen, dass es zwischen den Teilnehmer*innen
       unversöhnlich krachen muss, sie in anderen Sendungen dann aber ihre Gäste
       über gesellschaftliche Polarisierung klagen lassen. Im Privaten führe die
       diskursive Präsenz der Zeitdiagnose Polarisierung oft dazu, dass sie
       blitzschnell als Erklärung für jede beliebige eskalierende
       Konfliktsituation aufgerufen werde, in denen es schlicht nicht gelungen
       ist, gut zu kommunizieren.
       
       Für die sozialen Medien beobachtet Kumkar ähnliche Kommunikationsmuster,
       die Polarisierung oft zu einer Selffulfilling Prophecy werden lassen. Wer
       alles durch die Schablone einer angeblichen gesellschaftlichen
       Polarisierung betrachtet, schreibt diese selbst herbei.
       
       ## Die Inszenierung einer Antipolitik braucht Polarisierung
       
       Besonders interessant liest sich Kumkars Porträt der von Murray Rothbard
       entwickelten politischen Strategie aus den 1990ern. Die Texte des
       libertären amerikanischen Ökonomen bieten für ihn eine mögliche Erklärung
       für das politische Agieren der AfD sowie die Motive ihrer Wähler*innen. Für
       viele Beobachter*innen ist ein Rätsel, warum ausgerechnet diejenigen
       für eine Partei stimmen, die sozioökonomisch von deren Politik (etwa wegen
       geplanter umfangreicher Privatisierungen) gar nicht profitieren würden.
       Kumkars Darstellung von Rothbards rechtspopulistischer
       Polarisierungsstrategie als einer gegen den Staat gerichteten, stets um
       Selbstinszenierung als Underdog kreisenden [2][Antipolitik] ist hier
       durchaus erhellend.
       
       Am Ende läuft Kumkars Argumentation auf ein Nachdenken über die
       Notwendigkeit einer anderen, produktiveren politischen Polarisierung
       hinaus. Es ist auffällig, dass Kumkar, der in seinem Buch gerne und viel
       Theoretisches zitiert, an dieser Stelle eher sparsam ist. Bekannte
       radikaldemokratische Denker*innen wie Jacques Rancière, [3][Chantal
       Mouffe] oder Ernesto Laclau rezipiert er nicht. Darüber hinaus zieht Kumkar
       sich etwas bemüht auf die Rolle des distanzierten soziologischen
       Beobachters zurück, der weitere Diskussion zu produktiver Polarisierung der
       politischen Auseinandersetzung überlassen möchte.
       
       Kumkars Ausführungen provozieren an dieser Stelle kritische Nachfragen:
       etwa zu den von ihm kaum näher benannten Akteuren und Inhalten der von ihm
       erhofften „anderen“ Polarisierung sowie zu den Fallstricken progressiver
       Polarisierungsstrategien.
       
       Dennoch ist „Polarisierung“ ein sehr lesenswerter und wichtiger
       Debattenbeitrag.
       
       6 Sep 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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