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       # taz.de -- 1.288 Tage Krieg in der Ukraine: Urlaub vom Krieg
       
       > Unsere Autorin fährt im Sommer nach Finnland. Aber darf man sich im Krieg
       > überhaupt eine Auszeit gönnen, während es anderen so viel schlechter
       > geht?
       
   IMG Bild: Ruhe und Natur: In Finnland kann man sich erholen
       
       Was tut man an freien Tagen? Klare Antwort: sich erholen. In den letzten
       vier Jahren sah das bei mir anders aus: ich habe in der Zeit Nebenjobs,
       Praktika oder Fortbildungen gemacht. Und sogar krank vom Bett aus
       weitergearbeitet.
       
       Ich würde mich selber nicht als Workaholic bezeichnen, aber mir scheint,
       dass das Wort „Erholung“ in der Ukraine mittlerweile tabuisiert wird. Zu
       sagen, dass man eine Pause braucht, ist peinlich. Denn an der Front, in
       Hitze und Kälte, [1][harren unsere Soldaten aus]. In den [2][frontnahen
       Städten und Dörfern] schlafen die Menschen in feuchten Kellern. Und rund um
       die Uhr retten Sanitäter Leben.
       
       Sie alle haben es zweifellos sehr viel schwerer als ich. Darum fühlt es
       sich fast wie Verrat an, sich selbst eine Auszeit zu gönnen. Aber meine
       Akkus waren einfach komplett leer – und deshalb habe ich mich für einen
       Urlaub entschieden.
       
       ## Krabben aus Cherson
       
       Vor dem großen Krieg sah das anders aus. Ich komme [3][aus dem sonnigen
       Gebiet Cherson], das an zwei Meeren liegt: dem Schwarzen und dem Asowschen.
       Fast alle Ferien und langen Wochenende habe ich an der Küste verbracht.
       Dort lag ich mit Freunden am Strand, wir aßen Krabben und gekochte
       Maiskolben und badeten endlos im Meer. Abends gingen wir auf die Promenade
       oder tanzten bis zum Morgengrauen. Geschlafen haben wir wenig, aber es war
       immer lustig und unbeschwert
       
       Diese Urlaube am Meer waren immer mein safe space. Zum letzten Mal war ich
       dort im Sommer 2021. Denn schon Anfang 2022 wurde die ganze Küste unseres
       Gebietes [4][von russischen Streitkräften besetzt]. Seitdem war ich nicht
       mehr dort. Die Russen haben mir diesen sicheren Ort gestohlen.
       
       Als sich dieses Jahr endlich die Möglichkeit für einen Urlaub ergab, wusste
       ich erst gar nicht, was ich mit diesen Wochen anfangen wollte.
       
       ## Strategische Reiseplanung
       
       Ich könnte in Kyjiw bleiben, zu meinen Eltern aufs Land fahren oder in die
       Karpaten. Oder ins Ausland reisen. Schließlich habe ich entschieden, zu
       Verwandten nach Finnland zu fahren. Einfach, [5][um mal ein paar Wochen
       keine Explosionen und Sirenen zu hören]. Ich habe mich an das Leben in
       Kyjiw während des Krieges gewöhnt, aber es ist trotz allem anstrengend.
       
       Auslandsreisen aus der Ukraine sind aufwändig: Ich brauchte ein Bahnticket
       an die polnische Grenze, die sind im Sommer schwer zu bekommen. Dann ein
       weiteres nach Warschau, wo ich übernachten musste, um am nächsten Tag nach
       Helsinki zu fliegen. Von dort ging es mit dem Zug weiter. Insgesamt dauerte
       das 32 Stunden.
       
       ## Ich schäme mich
       
       Als ich mit der kompletten Organisation fertig war, überkam mich die Scham:
       „Ins Ausland fahren, um einfach zu chillen? Während meine Freunde und
       Eltern hier bleiben. Was sage ich ihnen? Dass ich mich erholen möchte. Das
       klingt ziemlich verrückt.“ Diese Gedanken quälten mich jeden Tag. Erst im
       Gespräch mit einer Psychologin begriff ich, dass ich zu viel von mir
       verlangte und mir deshalb unbewusst nicht gestattete, Freude am Leben zu
       haben.
       
       Tatsächlich war der Urlaub wunderbar: Im See schwimmen, Waldspaziergänge
       und mit den Verwandten über meine Sorgen sprechen. Es war aber gar nicht so
       leicht, nicht dauernd die Nachrichtenlage auf meinem Handy zu checken.
       Irgendwann hab ich es einfach nicht mehr mitgenommen.
       
       Nur einmal war ich unter Schock: Am ersten Tag in Finnland hupte ein
       vorbeifahrendes Auto, sehr laut. Mein Körper reagierte sofort, als wäre es
       eine Raketenexplosion gewesen. Ich brauchte eine ganze Woche, um mich an
       die lauten Geräusche zu gewöhnen.
       
       Noch immer bin ich nicht sicher, ob ich das Recht habe, mich zu erholen,
       während andere unter viel schwierigeren Bedingungen kämpfen und überleben
       müssen. Aber ich verstehe auch, dass Erholung weder Verrat noch Flucht ist.
       Es ist eine Möglichkeit, sich selbst zu schützen, um die Kraft zu haben, in
       die Realität des Krieges zurückzukehren.
       
       Aus dem Ukrainischen [6][Gaby Coldewey]
       
       2 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Yuliia Shchetyna
       
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