# taz.de -- Hausbesuch beim Infomeister: Der Meister vom Leo
> Sven Dittrich war Theatermacher, Gerichtsreporter, Marktforscher und
> Trödelhändler. Heute kümmert er sich um die Menschen am Berliner
> Leopoldplatz.
IMG Bild: „Ein Sofa fehlt noch“: Dittrich in seinem Wohnzimmer im Berliner Wedding, im Hintergrund Kunst seines Mannes
Sein Arbeitsplatz ist ein Bauwagen, dort nimmt Sven Dittrich seit 2024
Anregungen, Kritik und Beschwerden entgegen. Als Infomeister ist er Brücke
zwischen Verwaltung und Nachbarschaft.
Draußen: Auf dem vorderen Teil des Leopoldplatzes im Berliner Stadtteil
Wedding ist an diesem Freitagmittag Markt. An den Ständen stapeln sich
Handyhüllen, Kinderkleidung, Backformen. Es riecht nach Zimt. Von seiner
Terrasse hat Sven Dittrich, 47, einen guten Blick auf den Platz: links die
Spitze der neuen Nazarethkirche, [1][in der die rechte Freikirche UKRG
residiert], geradeaus ein Drogenmobil, in dem unter Aufsicht konsumiert
wird, rechts die Rückseite des Cafés Leo mit sozialen Angeboten. Auf der
Nazarethkirchstraße formen Betonsitze in Buchstabenform „Leopoldplatz“. Um
das E haben sich Männer mit Schnaps versammelt.
Drinnen: Sven Dittrich öffnet die Tür einer 180-Quadratmeter-Wohnung mit
zwei Ebenen. Unten leben er und sein Mann, oben sieben weitere Menschen:
„Für die WG gecastet.“ Im großen Flur Garderobenständer, Schuhe,
„Gemeinschaftstisch“, in der Küche drei Kühlschränke. Im Wohnzimmer ein
Holztisch, Teppich, Fernseher: „Ein Sofa fehlt noch.“ An den Wänden
Aquarelle seines Mannes. Krempel sucht man vergeblich – nach einer
Renovierung haben sie radikal reduziert.
Liebe: Seinen Mann, erzählt Sven Dittrich bei Kaffee und Zigarette auf dem
Balkon, habe er schon in der Schulzeit kennengelernt: „Klassische
Schulhofliebe.“ Seitdem haben die beiden viel gemeinsam probiert:
Theaterprojekte, Wohnungen, Jobs. Geheiratet haben sie erst später, ihre
Hochzeit in ihrer Stammkneipe am Platz gefeiert.
Spielstraße: Auf dem Holztisch im Wohnzimmer liegt eine Girlande aus
Stoffresten. Dittrich erklärt: „Die nutze ich nachher als Absperrband für
die Spielstraße.“ 2022 hat er mit anderen Anwohnenden und Ladenbesitzenden
die Bürgerschaftsinitiative „Wir am Leo“ gegründet – nach langem Ärger und
Unmut über Drogengeschäfte, Beschaffungskriminalität und Verelendung.
„Damals gehörte es zum Alltag, dass Menschen sich mitten auf der Straße die
Hose ausziehen und nach der letzten freien Vene suchen.“
Kiez: Der Berliner Platz mit der von Karl Friedrich Schinkel entworfenen
Kirche gleicht einem Park. Im hinteren Bereich gibt es einen Kiez mit
vielen Familien, Spielplatz, Cafés. Auf dem vorderen Teil des Platzes
findet regelmäßig ein Markt statt. 2022 geriet der Platz wegen
Drogenproblemen in Verruf. Vor 17 Jahren, als Sven Dittrich hierherzog,
sagt er, sei der Platz ein anderer gewesen: „Damals waren Trinker das
größte Problem.“
Werdegang: Vor Berlin träumte Dittrich von Theater, Regie oder Bühnenbild.
„Zwischen 16 und 25 haben wir im Ruhrgebiet soziokulturelle Theaterprojekte
gemacht.“ Gleichzeitig begann er als Lokalreporter. Später schrieb er
Gerichtsreportagen: „Amtsgericht, also Diebstahl, Schwarzfahren,
Körperverletzungen.“ Dadurch habe er die Menschen anders kennengelernt und
„erlebt, wie schwer es sein kann, wenn du wenig Geld hast, wenn es nicht
läuft, wie es soll“.
Schicksalsschlag: In Berlin begann er neben Theaterprojekten in der
Marktforschung zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Später bekam er eine
Vollzeitstelle als Studioleiter in einem Meinungsforschungsinstitut
angeboten. Nach fünf Jahren aber sei die Luft raus gewesen. Die schwere
Erkrankung und der schnelle Tod seiner Mitbewohnerin brachten ihn zum
Umdenken. Ihretwegen waren er und sein Mann von Marl nach Berlin gezogen:
„Wir wollten zusammen weg. Jeder durfte eine Stadt nennen – sie wollte
Berlin. Das ist es geworden.“ Während ihrer Erkrankung gab er seinen
Bürojob auf: „Ich habe erst mal alles Mögliche gemacht, unter anderem in
einer Kneipe gejobbt.“ Dann fragte ein Trödelhändler, ob er das Telefon
übernehmen würde. „Die brauchen immer jemanden, der Anrufe entgegen nimmt
und Entrümpelungen managt.“
Trödel: „Irgendwann meinte ein befreundeter Händler, dass ihm das Verkaufen
keinen Spaß mehr mache – ob ich seinen Trödel übernehmen wolle.“ Grinsend
erzählt Sven Dittrich, dass sein Mann daraufhin gefragt habe: „Wie,
Trödelladen?“ – „Ich weiß es auch nicht, aber ist doch nett.“ Er stand dann
vorne im Laden, sein Mann verkaufte online. Vorher hatte Dittrich den
Leopoldplatz nur abends und am Wochenende erlebt. Im Laden, der direkt an
den Platz grenzt, war er nah am Geschehen, lernte die Anwohnenden gut
kennen: „Die Trödel hier sind sehr niederschwellig. Da gehen alle hin, die
im Kiez wohnen.“
Kipppunkt: Die Übernahme fiel in die Coronazeit: „Das war der Kipppunkt auf
dem Platz.“ Auf den Spielplätzen lagen Spritzen, „und ein Dealertrupp hat
sich an der Kreuzung breitgemacht und den öffentlichen Raum in Geiselhaft
genommen – sehr revierdominant“. In dem Jahr seien über 2.000 Spritzen
gefunden worden, die Dealer blockierten Hausflure und Treppen: „Wer die
Polizei gerufen hat, wurde als Hurensohn beschimpft.“ Die Polizei habe sich
machtlos gezeigt und erklärt, dass Verdrängung politisch nicht gewollt sei.
„Und der Bezirk hat bagatellisiert.“
Betreff „Protest Leo“: Um der Verelendung entgegenzuwirken, organisierte
die von Dittrich mitgegründete Bürgerinitiative 2022 eine Demo. „Wir
dachten, wir tun uns zusammen nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark.“ Er
lächelt: „Zur Demo kamen 300 Menschen.“ Nach einer Runde um den Platz
dankte er der Menge: „Ich hoffe, dass das Rathaus nun handeln muss.“
Daraufhin habe eine grauhaarige Dame gegrinst und gesagt: „Das Rathaus ist
vor Ort.“ Es war die Bezirksbürgermeisterin. Auf die Demo am Leo folgte
eine Onlinedemo: „Wir haben dazu aufgefordert, E-Mails an die politischen
Akteure zu schreiben, und sei es nur ‚Betreff: Protest Leo‘ – Hauptsache,
es nervt.“ Außerdem holten sie Presse auf den Platz und organisierten
Aktionen wie Nachbarschaftstreffs und Clean-ups.
Sicherheitsgipfel: Durch den Druck wurde der Leopoldplatz zur Chefsache –
und auf dem [2][Berliner Sicherheitsgipfel] besprochen: „Da wurde mit viel
Geld neu gedacht, wie man mit solchen Orten umgehen kann.“ Seither sei viel
passiert: „Es gibt wieder Leute aus der Nachbarschaft, die sich mit dem
Platz neu identifizieren.“ Eine gut vernetzte Nachbarschaft sei ein
wichtiger Baustein.
Infopoint: Aus Geldern des Berliner Sicherheitsgipfels werden neben
verstärkter Polizei- und Sozialarbeit auch bessere Beleuchtung, eine
City-Toilette, künstlerische Interventionen sowie ein Platzteam finanziert.
In seinem Bauwagen vermittelt Dittrich Hilfesuchenden passende
Anlaufstellen: „Wir suchen nach dem bestmöglichen nächsten Schritt, seien
es die soziale Wohnhilfe oder die sozialarbeitenden Menschen hier.“
Zusätzlich versuche man für die Nachbarschaft immer wieder neue
Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, „wie das Kirschbaumfest, um ins
Gespräch zu kommen“. Er selbst, fügt er nachdenklich hinzu, sei ins Handeln
gekommen, um nicht abzustumpfen durch die täglichen Bilder. Er engagiere
sich, damit seine Fähigkeit zur Empathie nicht kaputtgehe.
Auszeichnung: Vor wenigen Tagen erhielt er für sein Engagement eine
Bezirksverdienstmedaille. Ob die Gelder weiterhin fließen, ist ungewiss.
„Es wäre tragisch, jetzt das Geld rauszunehmen. Verelendung und
Obdachlosigkeit werden uns begleiten. Die Frage ist, wie wir damit so
umgehen, dass es für alle lebenswert bleibt.“ Er sei, sagt Sven Dittrich,
ehe er zur Spielstraße aufbricht, sehr dankbar für den Job. Langweilig
werde es nie.
20 Sep 2025
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## AUTOREN
DIR Eva-Lena Lörzer
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