# taz.de -- Tagebuch aus Kasachstan: Wie sollte man dem Staat vertrauen?
> Als Kasachstan beschloss, häusliche Gewalt sei keine Straftat mehr, ging
> die Zahl der Delikte nach oben. Menschenrechtsinitiativen müssen weichen.
IMG Bild: Demonstration für Frauenrechte in der kasachischen Stadt Almaty, November 2023
In Kasachstan werden jedes Jahr Tausende Frauen Opfer häuslicher Gewalt.
Der Staat verspricht Schutz, aber diejenigen, die den Opfern wirklich
helfen, geraten selbst in Gefahr.
Allein laut offiziellen Statistiken wurden 2024 in [1][Kasachstan] 85.000
Schutzanordnungen erlassen. Etwa 87.700 Mal registrierte die Polizei
Delikte wegen [2][Gewalt] in Familien. 70 Menschen wurden von ihren
Angehörigen getötet.
All dies sind nicht nur Zahlen. In der absoluten Mehrzahl handelt es sich
um konkrete Schicksale von Frauen, die jahrelang in Angst gelebt haben.
Meist hat es lange Zeit gedauert, bevor sie sich entschlossen haben, zur
Polizei zu gehen. Aber dort mussten sie erfahren: Selbst dieser Schritt
garantiert keinen Schutz. Die Anzeige kann ohne Reaktion bleiben, und der
Aggressor bleibt zu Hause.
Es gibt nur wenige Krisenzentren im Land, und die meisten Opfer schaffen es
einfach nicht dorthin. Viele schweigen ganz: aus Angst, die Familie „zu
entehren“, aus Furcht vor Rache oder aus Misstrauen gegenüber staatlichen
Institutionen. Daher gibt es in Wirklichkeit viel mehr Fälle von Gewalt
gegen Frauen.
Bis 2017 galt [3][häusliche Gewalt] in Kasachstan als Straftat. Dann wurde
die strafrechtliche Verantwortung abgeschafft, und die zu erwartende
Verwaltungsstrafe für Körperverletzung fiel plötzlich geringer aus als
beispieltsweise die Strafe, die für Tierquälerei verhängt wird. Die
Gesetzesänderung signalisierte, dass häusliche Gewalt als Privatsache
gelten soll.
## Erst als ein Ex-Minister seine Frau tötete
Erst nach dem Mord an Saltanat Nukenova im Jahr 2023, der von ihrem
Ehemann, einem ehemaligen Minister, begangen wurde, mussten die Behörden
reagieren. Eine Petition für die Wiedereinführung der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit wurde innerhalb weniger Tage 150.000-mal unterschrieben.
Ein Gesetz, das die Strafen für häusliche Gewalt verschärft, wurde
verabschiedet. Aber es erwies sich als schwach: Viele
Menschenrechtsaktivist:innen bezeichnen es als halbherzig und
begrenzt. Es tauge nicht dazu, die Situation wirklich zu ändern.
Wo der Staat versagt, springen Aktivist:innen ein. Eine von ihnen ist
[4][Dina Tansari], Gründerin der Stiftung „[5][Ne molchi KZ]“ (Schweige
nicht, Kasachstan), die jahrelang verschwiegene Fällen aufgedeckt hat und
Opfern Anwälte, Zuflucht und medizinische Hilfe verschaffen konnte. Ihre
Stiftung hat sich für die Bestrafung der Täter und Disziplinarmaßnahmen
gegen untätige Polizist:innen eingesetzt.
Doch 2023 wurden sechs Strafverfahren gegen Dina Tansari eingeleitet – von
„Betrug“ bis zur „Verbreitung falscher Informationen“. Sie verließ das
Land. Die Regierung wiederum bemühte sich um die Auslieferung der
Menschenrechtsaktivistin. Zwei Jahre später erhielt Tansari [6][politisches
Asyl in Montenegro].
Der Fall von Dina Tansari zeigt: In Kasachstan kann man strafrechtlich
verfolgt werden, auch wenn man sich nicht politisch gegen die Regierung
engagiert, sondern lediglich versucht, Frauen zu schützen. Nicht nur, dass
der Staat die Opfer nur unzureichend schützt, sondern er kooperiert auch
nur widerwillig mit denen, die bereit sind, diese Arbeit für ihn zu
leisten.
Häusliche Gewalt beschränkt sich nicht auf die eigenen vier Wände. Sie
setzt sich fort in Gerichten, in Büros, in Gesetzen, die den Anschein von
Schutz erwecken, aber nichts am System ändern.
Daher bleibt die Lage der Frauen in Kasachstan weiterhin prekär. Die
Verfolgung der Menschenrechtsaktivistin Dina Tansari und ihre Flucht aus
dem Land auf der Suche nach Sicherheit erinnern stark an die Ereignisse in
Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine 2022. In Russland gibt es
Dutzende, vielleicht sogar Hunderte solcher Fälle. Angesichts der Tatsache,
dass Kasachstan gerne repressive Praktiken aus dem benachbarten
„befreundeten“ Land kopiert, muss man sich besorgt fragen, ob die
Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten in Kasachstan nicht noch massiver
werden könnte.
Ich befürchte, sie kann.
[7][Nikita Danilin], Jahrgang 1996, ist ein Journalist aus Almaty
(Kasachstan). Er war Teilnehmer eines [8][Osteuropa-Workshops der taz
Panter Stiftung].
Aus dem Russischen von [9][Tigran Petrosyan].
Durch [10][Spenden an die taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
„Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
5 Sep 2025
## LINKS
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DIR [4] https://www.instagram.com/dinatansari/?hl=de
DIR [5] http://www.nemolchi.kz/
DIR [6] https://en.fergana.news/news/139179/
DIR [7] /Nikita-Danilin/!a144060/
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## AUTOREN
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